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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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runtergekommen und rannte humpelnd auf die Pontonbrücke zu. Ägyptische Soldaten liefen ihm entgegen, umarmten ihn, wie um ihn vor einem möglichen Beschuss aus dem Posten zu beschützen. Doch die Soldaten im Bunker und auf den Wachtürmen betrachteten diese Szene deprimiert und still: Die Stimmung, die bei den Ägyptern herrschte, weckte ihren Neid. Ilan kratzte sein verdrecktes Gesicht. In den Tausenden von Stunden, in denen er die Stimmen ägyptischer Soldaten aus den Horchgeräten im unterirdischen Bunker von Babel gehört, in all den Tagen und Nächten, in denen er ihre Gespräche übersetzt hatte, gleichsam ein blinder Passagier ihres militärischen Alltags geworden war, auch inden ganz kleinen Momenten, bei den Witzen, den Schweinereien und ihren verborgensten Geheimnissen, nie hatte er so deutlich gespürt wie in diesem Moment, als sie ihren Freund, den Piloten, umarmten, dass sie echte, existierende Menschen aus Fleisch und Blut waren, Menschen mit einer Seele.
    Ich schon, sagte Avram zu Ora. Es war das erste Mal nach langen Minuten, dass er etwas sagte. Von allen Funkern in Babel hat mich dieses Horchen am meisten begeistert, mehr als die erfahrensten Horchfunker. Ich konnte es nicht fassen, dass man jeden, der nur den Mund aufmacht, einfach abhören durfte. Und dass man hören kann, was die Leute ganz intim miteinander reden. Na ja, sagt er, die militärischen Geheimnisse haben mich nicht so interessiert, das kannst du dir denken, ich hab mich für den Quatsch interessiert, für die kleinen Intrigen der Offiziere, für Sticheleien, Tratsch, winzige Andeutungen über ihr Privatleben. Da waren zwei Funker von der zweiten Armee, Fellachen aus dem Nildelta, und plötzlich hab ich kapiert, dass sie verliebt sind und ihre Andeutungen füreinander in den offiziellen Meldungen transportieren. Solche Sachen hab ich gesucht.
    Die menschliche Stimme? sagt Ora.

    Ein israelischer Phantom-Jagdbomber tauchte auf, drehte über dem Posten nach unten und schoss aus zwei MGs. Keiner rührte sich. Das Dröhnen des Flugzeugs erfüllte alles, auch Ilans Körper, warf ihn hin und her. Ein schwerer Aschenbecher aus Glas hüpfte auf dem Tisch, fiel zu Boden und zersprang. Im Hof des Postens stand der Panzersoldat aus Jerusalem, mit dem Ilan hierher gekommen war, und trank Kaffee. Über den Rand seines Kaffeebechers hob er die Augen überrascht gen Himmel. Seine Brillengläser blitzten, das Flugzeug neigte sich ein bisschen in seine Richtung, und Ilan sah, wie er diagonal zerschnitten wurde, von der Schulter bis zur Hüfte, und seine Hälften auseinandergeschleudert wurden. Ilan sackte vornüber und erbrach, auch andere um ihn herum übergaben sich. Einige Soldaten schwangen Fäuste gen Himmel, verfluchten die Luftwaffe und die ganze israelische Armee.
    Dann überzogen die Ägypter den Himmel mit Flugabwehrfeuer, ein rot-gelber Teppich, aus dem immer wieder die Rauschschwadenvon Raketen hervorbrachen. Die Phantom schlingerte zwischen ihnen, plötzlich schlug eine Flamme aus ihrem Heck, und sie trudelte in Ringen aus schwarzem Rauch nach unten. Stumm verfolgten die Soldaten ihren Absturz, bis sie auf der Erde zerschellte. Kein Fallschirm öffnete sich. Ihre Blicke mieden einander. Als Ilan wieder in den Hof schaute, sah er, jemand hatte den zerrissenen Toten bereits mit zwei Decken bedeckt.
    Was ist mit deinem Freund, rief der dunkelhaarige jemenitische Funker ihm zu, hast du ihn aufgegeben?
    Ilan verstand nicht, was er redete.
    Der aus Magma . Gut, dass du das abgebrochen hast.
    Ilan starrte ihn an, auf einen Schlag wurde sein Blick klar, und er rannte los.

    Hallo, hallo, hört mich jemand? Hallo? Ich bin hier allein. Alle andern haben sie schon gestern oder vorgestern umgebracht, etwa zwanzig Leute. Ich hab sie nicht gekannt, ich kam erst ein paar Stunden, bevor es losging hierher. Sie haben sie einzeln rausgeholt, in den Hof gezerrt und wie Hunde erschossen. Einige haben sie auch totgeschlagen. Ich und der Funker, wir haben uns unter Dieselfässern versteckt, die auf uns gerollt sind. Wir haben uns tot gestellt.
    Etwas hatte sich verändert, spürte Ilan sofort, Avram redete klar und sachlich, als sei er sich sicher, dass ihm irgendwo jemand zuhört und begierig seinen Worten lauscht.
    Ich hab sie weinen hören, unsere Leute. Sie haben gefleht, dass man sie nicht erschießt. Zwei hab ich gehört, die haben gebetet und wurden mittendrin niedergemäht. Dann sind die Ägypter abgezogen und nicht mehr zurückgekehrt. Die ganze

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