Eine Frau flieht vor einer Nachricht
parat zu sein. Auf allen Familienfesten bei ihm in Abu Gosh sind sie gewesen, und sie kennen In’am, seine Frau, und nicht selten haben sie ihm schon mit Kontakten und auch mit Geld geholfen, zum Beispiel als seine beiden großen Söhne nach Argentinien auswandern wollten. Sie selbst hat schon Hunderte von Fahrtstunden mit ihm verbracht, aber an so ein Schweigen erinnert sie sich nicht. Bei ihm ist jede Fahrt eine kleine Stand-up-Show, witzig, schlau, politisch schlagfertig schießt er in alle Richtungen, alles hat einen doppelten Boden, er ist wie ein doppelzüngiges Schwert, überhaupt, sie könnte sich gar nicht vorstellen, einen anderen Fahrer zu bestellen, und an Selbstfahren war im kommenden Jahr nicht zu denken – drei Unfälle und sechs Verstöße gegen die Verkehrsordnung im letzten Jahr, das war sogar für ihre Verhältnisse ein bisschen viel, und dieser fiese Richter, der ihr den Führerschein entzogen hatte, behauptete noch, er tue ihr damit bloß einen Gefallen, ihm könne sie ihr Leben verdanken. Dabei hätte es so einfach sein können; wenn sie Ofer jetzt selbst gefahren hätte, wäre sie wenigstens noch eineinhalb Stunden mit ihm allein gewesen und hätte ihn vielleicht sogar rumgekriegt, unterwegs irgendwo zu halten, im Wadi Ara gab es ein paar gute Restaurants, eine Stunde früher oder später, wo brennt’s, wohin hast du’s so eilig, sag mir, was erwartet dich denn da?
Aber eine Fahrt allein mit ihm würde es in nächster Zeit nicht geben, auch nicht ganz allein, an diese Einschränkung muss sie sich gewöhnen, endlich loslassen, aufhören, jeden Tag neu die Unabhängigkeit zu betrauern, die man ihr entzogen hat, sie sollte sich freuen, dass da zumindest Sami ist, der sie weiterhin chauffiert, auch nach der Trennung von Ilan – Ilan hatte darauf bestanden, sie selbst war damals gar nicht in derLage gewesen, an solche Einzelheiten zu denken –, Sami war ausdrücklich Teil ihres Trennungsabkommens, er selbst hatte gesagt, sie teilten ihn unter sich auf wie die Möbel, die Teppiche und das Besteck. Wir Araber, hatte er mit seinem Mund voll riesiger Zähne gesagt, wir haben uns seit dem Teilungsplan von 47 dran gewöhnt, dass ihr uns aufteilt. Die Erinnerung an diesen Sarkasmus ließ sie wieder zusammenzucken, hinzu kam die Scham über ihre heutige Gedankenlosigkeit, dass sie im allgemeinen Durcheinander diesen Teil von ihm völlig übergangen hatte, die Tatsache, dass er Araber ist.
Am Morgen hatte sie Ofer beobachtet, schuldbewusst stand er da, das Telefon in der Hand – in dem Moment hatte ihr jemand sanft, aber entschieden die Führung ihres Lebens aus der Hand genommen. Sie war abgesetzt. Auf die Stufe des Beobachters, des starrenden Zeugen degradiert. Statt Gedanken nur noch ein Aufblitzen von Empfindungen. Mit abgehackten, kantigen Bewegungen war sie von einem Zimmer ins andere gelaufen. Später dann mit ihm ins Einkaufszentrum, um ihm etwas zum Anziehen, Süßigkeiten und CDs zu kaufen – eine neue Edition von Johnny Cash war gerade rausgekommen –, und den ganzen Vormittag war sie benommen neben ihm hergelaufen und hatte wie ein junges Mädchen über alles gekichert, was er sagte. Mit weit aufgerissenen Augen hatte sie ihn verschlungen, sich schamlos für die endlosen Jahre des Hungers gerüstet, die kommen würden, die gewiss noch kommen würden. Als er ihr gesagt hatte, er müsse weg, hatte sie keinen Zweifel mehr gehabt. Dreimal entschuldigte sie sich an diesem Vormittag und suchte eine öffentliche Toilette wegen ihres Durchfalls. Ofer lachte. Was hast du denn? Was hast du gegessen? Sie starrte ihn an, sah den Anflug eines Lächelns und prägte sich ein, wie er den Kopf beim Lachen leicht nach hinten legte.
Die junge Verkäuferin im Kleidergeschäft musterte ihn, als er ein Hemd anprobierte, ihre Wangen röteten sich, und Ora dachte sich, ganz und gar überschwemmt, mein Freund gleicht einem jungen Hirsch . Die Verkäuferin in dem Musikgeschäft war eine Klasse unter ihm gewesen, und als sie hörte, wohin er in nur drei Stunden ausrückte, ging sie auf ihn zu, umarmte ihn, drückte sich in all ihrer Größe und Fülle an ihn und drängte ihn sogar, sie gleich anzurufen, wenn er zurück sei. Ora sah, dass ihr Sohn für solche Erregung blind war, und dachte, seinHerz hinge noch ganz an Talia. Schon ein Jahr war vergangen, seit sie ihn verlassen hatte, und noch immer sah er nur sie. Mit Bedauern stellte sie fest, er ist eine treue Seele, genau wie sie, und weitaus monogamer als
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