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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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Wochenende freibekam, doch irgendwann merkte sie, dass er es ein bisschen über hatte, dass der häusliche Alltag, all die Reparaturen ihn langweilten und schon nicht mehr berührten.
    Der Tisch ist gedeckt, das Essen fertig, Ilan sagt etwas, was bei Ofer den Anflug eines ersten Lächelns bewirkt, beide stürzen sich darauf wie auf ein Stück Glut, das man anfachen und zum Leben erwecken muss, und Ofer erzählt, sie hätten in der Pillbox eine Katze mit zwei Jungen, und er habe sich gerade die Mutter zur Adoption ausgesucht, und er errötet leicht und lacht verlegen: Ich dachte, dann hab ich da so etwas Mütterliches. Ora bewegt sich schwebend, da kommt endlich auch Adam, alles ist schon kalt, beschwert sie sich, aber alles ist noch heiß und dampft, die Umarmung der Jungs, der Klang ihrer sich verflechtenden Stimmen und ihres gemeinsamen Lachens ist mit nichts zu vergleichen. Manchmal, hier auf unserem Weg, erklärt sie Avram, träume ich davon, dieses gemeinsame Lachen der beiden zu hören. Ofers Augen leuchten, als er Adam sieht, seine Blicke verfolgen ihn auf Schritt und Tritt, als begreife er erst jetzt, dass er zu Hause ist, als erwache er aus seinem dreiwöchigen Schlaf. Und wenn Ofer erwacht, werdenalle vier zum Leben erweckt, sogar die Küche schließt sich summend und klappernd wie eine gute alte Maschine der Auferstehung an. Achte auf den Ton, denkt sie, vertrau dem Ton; das Brodeln der Töpfe, das Summen des Kühlschranks, das Klappern der Löffel in den Tellern, der laufende Wasserhahn, eine blöde Radiowerbung, deine eigene Stimme und die von Ilan, das Brabbeln deiner Kinder, ihr Lachen, das macht die Melodie, und sie verkrampft sich sofort, mein Gott, mein Gott, mach, dass das nie aufhört. Aus der Speisekammer dringt das rhythmische Schlagen der Wäschetrommel, zu dem sich nun noch das Scheppern von Metall gesellt, vermutlich die Schnalle seines Uniformgürtels oder eine Schraube aus einer Tasche, hoffentlich nicht noch eine vergessene Gewehrkugel, denkt Ora, die uns dann im dritten Akt plötzlich um die Ohren fliegt.

    Eines Tages, vor etwa einem Jahr, hatte Ora die Sekretärin in der Praxis, in der sie arbeitete, gebeten, dem nächsten Patienten abzusagen, sie habe einen schweren Tag gehabt und die ganze Nacht kaum ein Auge zugetan – da hatten die Probleme zu Hause schon begonnen, murmelt sie, und Avram bemerkt die Anspannung in ihrer Stimme –, sie hatte gedacht, sie würde schnell in die Emek Refa’im Straße gehen, sich eine Kleinigkeit kaufen, einen Schal oder eine Sonnenbrille, um ihre Deprimiertheit zu verbergen. Sie ging die Jaffastraße entlang zu dem Parkplatz, auf dem sie jeden Tag ihr Auto abstellte, und auf der Straße herrschte, anders als sonst, eine merkwürdig Stille, die sie beunruhigte. Schon wollte sie umkehren, zurück in die Praxis gehen, aber sie lief trotzdem weiter und merkte, dass die Leute auf der Straße schnell gingen und einander kaum in die Augen schauten, und im nächsten Moment ging auch sie selbst so, mit gesenktem Kopf, und mied die Blicke der Entgegenkommenden, musterte sie nur kurz, schaute vor allem, ob sie etwas bei sich trugen, ein Paket oder eine große Tasche. Ob sie verdächtig nervös aussahen, und fast alle wirkten auf sie irgendwie verdächtig, und sie dachte, vielleicht wirke ich genauso, vielleicht muss ich irgendwie signalisieren, dass von mir keine Gefahr ausgeht, dass man bei meinem Anblick ruhig bleiben und sich ein paar ängstliche Herzschläge sparen kann, aber andererseits sollte man eine solche Information nicht so leichtsinnig weitergeben.
    Sie streckte sich, zwang sich, aufrechter zu gehen und die Entgegenkommenden anzuschauen, und entdeckte dabei in jedem Gesicht einen schwer fassbaren Zug, der eine dort verborgene Möglichkeit andeutete: die Möglichkeit, Mörder oder Opfer zu sein; meist war es beides zugleich.
    Wann hatte sie genug Zeit gehabt, diese Bewegungen und Blicke zu studieren? Das ewige nervöse Sich-Umschauen und diese Schritte, die vorsichtig den Weg prüfen und selbst entscheiden, wohin sie gehen. Sie entdeckte bei sich Symptome einer Krankheit, die sie soeben entwickelte. Sie hatte den Eindruck, dass sie und auch alle anderen um sie herum, sogar die Kinder, nach eigenen Trillerpfeifen hüpften, die allein ihre Körper hören konnten, während ihr Bewusstsein taub dafür war. Sie lief schneller, ihr Atem wurde kürzer. Sie dachte, wie entkommt man dem, wie kommt man hier raus, und als sie eine Bushaltestelle sah, setzte sie

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