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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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langsam zu bewegen.
    Am nächsten Morgen, noch vor ihrem ersten Patienten, schnappte sie sich am Busbahnhof den 18er, setzte sich diesmal in den vorderen Teil, und alle drei oder vier Stationen stieg sie aus, nahm den nächsten Bus, ab und zu überquerte sie auch die Straße, fuhr in die andere Richtung, und jedes Mal versuchte sie, sich auf einen anderen Platz zu setzen, als sei ihr Körper eine Figur in einem imaginären Schachspiel. Als sie merkte, dass sie bereits zwei Patienten verpasst hatte und zu ihrer dritten Behandlung auch schon zu spät kommen würde, erschrak sie und dachte an die beiden Leiter der Praxis, die sie wieder zu einem klärenden Gespräch zitieren würden, doch diesen Gedanken verschob sie auf später, wenn sie die Kraft dazu haben würde. In diesen Tagen war sie dermaßen müde, dass sie, wenn sie sich nur hinsetzte, den Kopf sinken ließ und manchmal für mehrere Minuten einschlief. Aus dem Halbschlaf hob sie ab und zu die Lider und betrachtete die Leute im Bus wie durch eine Scheibe. Stimmen drangen zu ihr, Unterhaltungen, die sich zwischen fremden Menschen entspannen, Telefongespräche der Mitfahrenden. Wenn an einer Haltestelle niemand einstieg, machte sich im Bus eine Erleichterung breit, und die Leute begannen miteinander zu reden. Ein schwerfälliger alter Mann, geschmückt mit allerlei Auszeichnungen der Roten Armee, der eine Zeitlang neben ihr saß, zog aus seiner Einkaufstüte einen großen braunen Umschlag mit einer Röntgenaufnahme seiner Niere und zeigte ihr mit dem Finger, wo der Tumor saß. Durch das ans Fenster gehaltene Röntgenbild sah Ora zwei äthiopische Grenzpolizistinnen, die die Papiere eines jungen Mannes überprüften – vielleicht ein Araber, vielleicht auch nicht. Er tippte die ganze Zeit mit einem Fuß auf den Bürgersteig.
    Sie bleiben stehen, verschnaufen etwas, stemmen die Hände in die Hüften. Warum rennen wir plötzlich so? fragen sie einander mit Blicken, aber etwas sticht in den Fersen, krabbelt wie Ameisen in der Seele, und sie würdigen das schöne Netofa-Tal nur mit einem kurzen Blick und kehren schnell auf den Ziegenpfad zurück, in einen Waldvon Pistazienbäumen, Eichen und Birken. Ora schweigt. Sie schaut auf den Weg, Avram wirft ihr vorsichtige Blicke zu, sein Gesicht verschließt sich und wird von Schritt zu Schritt schmaler. Schau mal, sagt sie und zeigt auf den Weg zu ihren Füßen: Feine Striche in alle Richtungen ergeben plötzlich eine dichte Hieroglyphenschrift, die zu einer Traube kleiner Schneckenhäuser um den Zweig eines Busches führt.
    In der zweiten Woche kannten einige Busfahrer sie schon, doch da nichts an ihr Verdacht erregte, strichen sie sie gleich aus ihrem Bewusstsein, um sich aufs Wesentliche zu konzentrieren. Auch sie erkannte einige Fahrgäste, wusste, wo sie ein- und wieder aussteigen würden, ob sie sich eher am Handy oder mit den Leuten auf dem Nachbarsitz unterhielten, sie wusste auch schon etwas über ihre Krankheiten und ihre Familien und was sie über die Regierung dachten. Ein altes Paar fiel ihr auf: Der Mann war hochgewachsen und dünn, die Frau sehr klein, verhutzelt, fast durchsichtig. Wenn sie saß, reichten ihre Beine nicht auf den Boden und baumelten in der Luft. Die Frau hustete ununterbrochen hart und feucht, und der Mann nahm ihr regelmäßig das Taschentuch aus der Hand, prüfte besorgt dessen Inhalt und gab ihr ein neues. Wenn die beiden an der Haltestelle beim Markt einstiegen, wurde Ora für ein paar Augenblicke etwas wacher. Auch sie fuhren bis zur Endstation, nahmen dann zu ihrer Überraschung auch fast immer den Bus zurück und stiegen an der Stelle, wo sie vorher eingestiegen waren, auf der anderen Straßenseite wieder aus. Es gelang ihr nicht, die Bedeutung dieser Route zu verstehen.
    Drei oder vier Wochen lang fuhr Ora täglich wenigstens einmal mit dem 18er und verbrachte mindestens eine Stunde busfahrend in der Stadt. Sie entdeckte, dass quälende Vorstellungen sie während der Fahrt in Ruhe ließen, dass sie kaum einen Gedanken zu Ende dachte und nur ihren Körper gewissermaßen von einer Haltestelle zur nächsten transportieren ließ. An das Rütteln hatte sie sich längst gewöhnt, an das Kreischen der Bremsen, an die Schlaglöcher und die frommen Radiostationen, die lauthals ihre Botschaft verkündeten. Sie sah auch, dass sie das, was sie über weite Strecken des Tages tat, vor Ilan geheimhalten konnte. Manchmal, wenn sie sich beim Abendessen gegenübersaßen, starrte sie ihn an, und ihre

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