Eine Frau flieht vor einer Nachricht
sich für einen Augenblick auf einen der Plastiksitze, seit Jahren hatte sie an keiner Bushaltestelle mehr gesessen, und schon das Sitzen auf diesem gelben glatten Schalensitz war das Eingeständnis einer Niederlage. Sie setzte sich aufrecht, fand langsam ihren Atem wieder. Gleich würde sie aufstehen und weitergehen. Sie erinnerte sich, wie Ilan mit Ofer in der ersten Zeit der Selbstmordanschläge – Adam war schon beim Militär – durch die Stadt gelaufen war, um eine sichere Route von seiner Schule im Stadtzentrum zur Bushaltestelle nach Ejn Karem zu suchen. Doch die eine Route führte zu nah an der Stelle vorbei, wo sich ein Terrorist im 18er-Bus mit zwanzig Fahrgästen in die Luft gejagt hatte, und als Ilan vorschlug, Ofer solle die Fußgängerzone Ben Jehuda hinaufgehen, erinnerte Ofer ihn an den dreifachen Anschlag dort, bei dem fünf Menschen getötet und hundertundsiebzig verletzt worden waren, und Ilan versuchte, eine etwas längere Route zu finden, die das Zentrum umgehen und an der Gegend des Marktes vorbeiführen sollte, doch Ofer sagte, genau hier habe ein doppelter Anschlag stattgefunden, fünfzehn Tote und siebzehn Verletzte, und sowieso führen alle Busse vom Stadtzentrum nach Ejn Karem am Busbahnhof vorbei, an dem es auch schon einen Anschlag gegeben hatte, wieder auf den 18er-Bus, mit fünfundzwanzig Toten und dreiundvierzig Verletzten.
Und so liefen sie von einer Straße zur nächsten, erzählt sie Avram –und während sie erzählt, erschaudert sie bei dem Gedanken, dass Ofer vielleicht noch immer irgendwo seinen kleinen Block hat, in den er die Zahl der Ermordeten und der Verletzten einträgt. Die Straßen und Gassen, in denen bisher noch nichts passiert war, erschienen Ilan so einladend für Anschläge, dass er sich regelrecht wunderte, dass hier noch nichts passiert war. Schließlich gab er auf. Er blieb mitten auf einer Straße stehen und sagte, weißt du, Oferiko, geh einfach, so schnell du kannst. Renn am besten.
Den Blick, den Ofer ihm da zuwarf – hatte er Ora später erzählt –, den werde er nicht mehr vergessen.
Während sie noch darüber nachsann, hielt ein Bus an der Haltestelle, und als die Tür aufging, stand Ora gehorsam auf und stieg ein; erst da wurde ihr klar, dass sie gar nicht wusste, was eine Fahrt heutzutage kostete, und auch nicht, welche Linie hier fuhr. Zögernd streckte sie dem Fahrer einen Fünfzigschekelschein hin. Und er polterte los, ob sie es nicht kleiner habe, und sie kramte in ihrem Geldbeutel, fand aber nichts, und er zischte irgendeine Beschimpfung, gab ihr das Wechselgeld aus lauter Münzen und trieb sie zur Eile, schnell nach hinten durchzugehen. Da stand sie und betrachtete die Fahrgäste, die meisten waren älter und hatten müde, traurige Gesichter, einige kamen wohl vom Markt, hielten vollgepackte Taschen zwischen den Beinen. Auch einige Gymnasiasten in Einheitskleidung, sonderbar still, Ora schaute sich diese und jene verwundert und mit merkwürdigem Mitleid an, sie wollte sich schon umdrehen und aussteigen, sie hatte ja gar nicht mit dem Bus fahren wollen, sagt sie zu Avram, doch eine Frau, die nach ihr eingestiegen war, schob sie weiter in den Bus, und Ora tappte noch ein paar Schritte weiter, bis sie stehenblieb; da keine Sitzplätze frei waren, hielt sie sich an der oberen Stange fest und lehnte ihre Wange an den Oberarm, schaute auf die Stadt hinter dem Fenster und fragte sich, was mach ich hier überhaupt? Ich muss doch gar nicht hier sein. Der Bus fuhr an den eng aneinandergedrängten schmalen Läden der Jaffastraße vorbei, vorbei an der Sbarro- Pizzeria und danach am Zionsplatz, auf dem 1975 in einem Kühlschrank eine Bombe explodiert war; unter den vielen Toten damals war auch ein junger Mann gewesen, den sie bei ihrem Militärdienst kennengelernt hatte, Itsche, der Sohn des Malers Naftali Bezem, und Ora fragte sich, ob Bezem es wohl nach demTod seines Sohnes irgendwann geschafft habe, wieder zu malen. An der Bushaltestelle vor dem YMCA wurden ein paar Plätze frei, sie setzte sich und sagte sich, an der nächsten Haltestelle steige ich aus, doch sie fuhr weiter, am Glockenpark vorbei, die Emek Refa’im Straße entlang, und als der Bus am Café Hillel vorbeifuhr, sagte sie halblaut, jetzt steigst du aus und trinkst da einen Kaffee, doch sie fuhr weiter.
Sie wunderte sich, wie still die Fahrgäste waren, die meisten sahen, genau wie sie, aus den Fenstern, als wagten sie es nicht, die anderen Mitfahrenden anzuschauen, und jedes Mal,
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