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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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kannte. Mama, mach dir nicht so große Sorgen um die Palästinenser, so eine Gummikugel kann höchstens eine Hand oder ein Bein brechen. Und wenn du danebenschießt und einem das Auge rausschießt? Dann wird der bestimmt keine Steine mehr schmeißen, sagte er. Zum Beispiel hat diese Woche ein Soldat von uns auf drei Jugendliche geschossen, die unsre Pillbox mit Steinen beworfen haben, tak-tak-tak hat er ihnen die Beine gebrochen, jedem ein Bein, sehr elegant, und glaub mir, die drei kommen nicht mehr wieder. Aber ihre Brüder werden wiederkommen, schrie sie, und auch ihre Freunde, und in ein paar Jahren auch ihre Kinder!
    Dann zielst du vielleicht besser gleich so, dass sie keine Kinder mehr kriegen können, schlug Adam vor, der lautlos wie ein Schatten hinter ihnen aufgetaucht war. Die Jungs lachten etwas verlegen, Ofer warf Ora einen Blick zu, es war ihm unangenehm. Da packte sie ihn an der Hand, schleppte ihn in Ilans Arbeitszimmer und stellte sich vor ihm auf: Hier und jetzt will ich dein Versprechen, dass du nie im Leben auf einen Menschen schießen wirst. Ofer hatte sie angeschaut, in Wut zogen sich seine Pupillen zusammen: Mama, es reicht, genug jetzt, was hast du denn … Ich habe meine Anweisungen, da gibt es Befehle! Nein, schäumte sie und stampfte auf, nie im Leben, hörst du? nie im Leben wirst du auf einen Menschen schießen! Von mir aus ziel in den Himmel, auf die Erde, verfehl ihn in alle Richtungen, aber schieß auf keinen Menschen!
    Und wenn er einen Molotowcocktail in der Hand hat? fragte Ofer, wenn er eine Waffe hat? Na?
    Solche oder ähnliche Gespräche hatten sie schon geführt. Oder war das mit Adam gewesen, zu Beginn von dessen Wehrdienst? Sie kannte alle Argumente, Ofer auch. Sie hatte sich geschworen, zu schweigen oder sich zumindest in Acht zu nehmen, denn die ganze Zeit nagte in ihr die Angst, dass ihm im entscheidenden Moment, in einem Kampf oder wenn er plötzlich überraschend aus dem Hinterhalt angegriffen würde, ihre Worte einfallen und ihn straucheln lassen oder seine Reaktion um den Bruchteil einer Sekunde verzögern würden.
    Wenn du in Lebensgefahr bis, okay, dann musst du versuchen, dich zu retten, keine Frage, aber nur dann! Ofer kreuzte die Arme über der Brust, so eine Geste von Ilan, und lächelte immer breiter, und woher soll ich bitte genau wissen, ob ich in Lebensgefahr bin? Vielleicht lass ich sie ein Formular ausfüllen, in dem sie ihre Absichten erklären? Sie verrannte sich in das verhasste Gefühl, das sie immer überkam, wenn Ofer oder jemand anderes sich über sie lustig machte und ihre bekannte Unfähigkeit bei Diskussionen und die Schwachheit ihrer Argumente ausnutzte. Wirklich, Mama, sagte Ofer, jetzt wach endlich auf! Hallo! Das dort ist Krieg! Eigentlich hab ich gedacht, dass du nicht so zu denen hältst.
    Wieder ergriff sie das Feuer. Das ist doch völlig egal, was ich von ihnen denke, kreischte sie, nicht darum geht es, ich diskutier mit dirim Moment noch nicht einmal darüber, was wir in den Gebieten überhaupt verloren haben! Und von mir aus können wir da noch heute rausgehn, schrie Ofer sie an, dann sollen die ihr beschissenes Leben alleine leben und sich gegenseitig niedermetzeln, aber zu diesem Zeitpunkt, Mama, wo ich nun mal in der Scheißsituation bin und dort sein muss, was soll ich da deiner Meinung nach tun? Na? Sag schon! Mich hinlegen und die Beine breit machen?
    Nie zuvor hatte er so mit ihr gesprochen. Er brannte vor Wut, und sie war deprimiert. Irgendwo musste es ein gutes Argument geben, das auf einen Schlag alle seine Argumente außer Kraft setzte. Ihre Finger spreizten sich vor seinen Augen zu einem stummen Schrei, wart mal kurz, Ofer, sie musste ihre durcheinander geratenen Gedanken sammeln – gleich wird sie wieder wissen, was genau sie ihm sagen will, und ihre Worte der Reihe nach ordnen –, hör zu, Ofer, ich bin ja nicht klüger als du (ist sie wirklich nicht) und auch nicht moralischer (dieses Wort macht ihr sowieso Angst, und in einem Winkel ihres Herzen ist ihr klar, dass sie seine Tragweite nicht wirklich versteht, im Gegensatz zu allen anderen, die dies anscheinend tun), aber ich habe – und das ist eine Tatsache! (dass sie jetzt schrie, war, zugegeben, ein bisschen billig) –, ich habe mehr Lebenserfahrung als du! (Wirklich? Plötzlich zerrinnt ihr auch dieses Argument. Bist du da so sicher? Mit allem, was er beim Militär erlebt, was er sieht, was er tut, womit er sich jeden Tag auseinandersetzen muss?), und ich weiß auch

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