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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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recht, murmelte Ora, du hast hundertmal recht, aber wieder riss sich diese Frage aus ihr los, das ging schon ein paar Wochen so, sie hatte keine Kontrolle darüber, als produziere ihr Körper selbst diese giftige Mischung, die ihr in regelmäßigen Abständen aufstieß. Ilan hatte sich noch in der Gewalt, erstaunlich, wie alle um sie herum Ruhe bewahrten, während sie immer mehr auseinanderbrach – manchmal hegte sie sogar den Verdacht, dass die drei sich gerade deshalb in der Gewalt hatten, weil sie, Ora, die Gewalt über sich verlor, und dass sie auf irgendeine merkwürdige Art, aufgrund einer verborgenen, höchst komplizierten familiären Konstellation, diesen peinlichen und beschämenden Kontrollverlust an ihrer Statt und vielleicht sogar um ihretwillen erlebte – und Ilan erklärte ihr zum soundsovielten Mal, dass Ofer schon am Donnerstagmorgen, etwa um halb fünf, neun Stunden nachdem der Alte in diesen Raum gebrachtworden war (» gebracht worden« , sagte er, sie hatte den Eindruck, dass alle drei plötzlich in anonymem Passiv darüber redeten, er war gebracht, dortgelassen, vergessen worden), dass Ofer seinen Kompaniechef ja gefragt hatte, was aus dem Alten im Keller geworden sei, und man ihm gesagt hatte, dass Chen, der Bataillonskommandeur, bestimmt schon jemanden runtergeschickt hatte, um ihn rauszuholen, und er habe ja um sechs Uhr abends noch einmal Tom, den Einsatzleiter, gefragt und über Funk die Antwort bekommen, es sei völlig undenkbar, dass ihn bis jetzt noch keiner da rausgeholt habe. Und danach hat er nicht mehr gefragt, dachte Ora bei sich, und auch Ilan schwieg. Ofer selbst hatte gesagt, er habe es irgendwie vergessen, andere Sachen im Kopf gehabt, und Ora dachte, dass es vermutlich auch einen Moment gibt, in dem man die Frage nicht mehr stellen kann, weil man sich vor der Antwort fürchtet, und Avram hört ihr zu, versinkt immer tiefer zwischen seinen Schultern, seine Augen sind nicht mehr zu sehen.
    Ilan holte tief Luft und sagte, was willst du, Ora. Bisher hat das Militär bei allen Untersuchungen sogar Chen und Tom für sauber erklärt, weil drum herum so ein Chaos war, und Ora sagte, gar nichts will ich, ich hoffe wirklich, dass sie da alle sauber rauskommen, aber trotzdem, erklär mir, wie Ofer zwei Tage lang nicht auf den Gedanken kam, selbst runterzugehen und nachzusehen …
    Wie oft hatte sie im letzten Monat diese Diskussion geführt, immer wieder hatte sie, mit stetig wachsender Verzweiflung, ihren Text aufgesagt, und nun schrie Ilan, jetzt reicht’s aber wirklich, hörst du dich überhaupt noch? Was ist denn mit dir los? Du bist ja richtig übergeschnappt! Er hatte den Hörer auf die Gabel geknallt und nach ein paar Minuten wieder angerufen und sich entschuldigt, nie hatten sie Telefongespräche abgebrochen, nie war er so auf sie losgegangen, aber du nervst jetzt wirklich damit, sagte er dann müde, und sie hörte in seiner Stimme den Wunsch, sich wieder zu versöhnen, und wusste, dass er recht hatte, sie mussten zusammenhalten, um das, was auf sie zukam, gemeinsam durchzustehen. Wenn man diesen Vorfall jetzt nicht mit kühlem Kopf in die richtigen Bahnen lenkte, würde Ofer noch vor dem Militärgericht landen, falls es nicht bei einer internen Untersuchung des Regiments und der Brigade bliebe; von dort sei es nur noch ein kleiner Sprung bis zur Presse, hatte Ilan ihr mehrmals in Erinnerunggerufen, und diese Geier stürzen sich doch auf jede Gelegenheit, alles schlechtzumachen, wenn sie erst einmal Blut riechen. Ora sagte sich zum soundsovielten Mal im Stillen Ilans Argumente vor, man müsse doch bedenken, dabei sei ja keiner umgekommen oder verletzt worden, in diesem Kühlraum, und es ist auch keiner verhungert, denn da hingen Rinder, Schafe und Ziegen an den Haken, und dem alten Palästinenser war es irgendwann gelungen, den Knebel, den man ihm verpasst hatte, damit er nicht schrie, abzunehmen, und dank der vielen Stromausfälle, die das Militär in der Gegend initiierte, war er auch nicht erfroren, manchmal war ihm sogar ziemlich heiß geworden, das heißt, manchmal haben sie ihn tiefgefroren und dann wieder aufgetaut, so hatten es Ofers Kameraden aus der Einheit erzählt. Nackt, stinkend und mit Tierblut verschmiert, habe er sich auf dem Boden gewälzt, als sie schließlich die Tür des Kühlraums öffneten – Ofer war um diese Zeit überhaupt längst zu Hause gewesen, sie hatten ihn an diesem Freitag doch um sechs plötzlich heimfahren lassen, murmelt sie zu Avram,

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