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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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verstehst du? Er war noch nichmal dabei –, und nachdem sie den Alten da rausgeholt hatten, hat er auf dem Gehweg gelegen und geschlottert und rumgezappelt, als vollführe er zu Füßen der Soldaten einen merkwürdigen Tanz; er hat seinen Kopf auf den Gehweg geschlagen und röchelnd und lachend mit dem Finger abwechselnd auf sich selbst und auf die Soldaten gezeigt, als hätte er in den zwei Tagen, in denen er da eingesperrt gewesen war, einen einzigen grandiosen Witz gehört, gleich würde er sich einkriegen und ihn dann auch zum Besten geben. Sie befahlen ihm aufzustehen, doch er weigerte sich, vielleicht konnte er sich auch nicht mehr auf den Beinen halten, er zappelte und wand sich zu ihren Füßen auf dem Gehweg, schlug den Kopf auf den Boden und stieß sein verrücktes krächzendes Lachen aus, und Ora riss sich zusammen, als sie das hörte, und sagte weder zu Ofers Freunden noch zu Ilan und Adam und vor allem nicht zu Ofer, was ihr damals auf der Zunge gelegen hatte: dass man heutzutage als Palästinenser wahnsinnig werden muss, damit man von den Checkpoints und den ganzen Erniedrigungen nichts mitkriegt. Doch auch dieser Gedanke war ihr fremd, auch den hatte ihr Hirn gegen ihren Willen produziert, und für einen Moment überlegte sie, was wäre, wenn ihr jetzt immer häufiger solche Sachen rausrutschen würden, solche Anfällevon linkem Gerede, wie ein Tourette-Syndrom – schleunigst rief sie sich zur Ordnung: Sollte sie Ilan nicht dankbar sein, dass er sich für Ofer so einsetzte, er hatte den Fall in allen Einzelheiten studiert und zusammen mit Ofer diese beiden Tage minutiös rekonstruiert, hatte Ofer hervorragend auf alle Befragungen und Verhöre vorbereitet, hatte außerdem mit zwei, drei Leuten, die er beim Militär und außerhalb kannte, telefoniert und vorsichtig an ein paar Fäden gezogen, damit die Sache schnellstmöglich über die Bühne ging – mit einer zwar ernsthaften und umfassenden Konsequenz, aber doch im Rahmen einer internen Untersuchung. Ora schwor sich, ab jetzt ihr großes Maul zu halten, noch war nicht alles verloren, und jetzt, nachdem sie ihre Meinung verkündet hatte, hätte sie eigentlich an ihren natürlichen Platz in der Familie zurückkehren und endlich wieder die große Bärenmutter sein können, die ihr Junges verteidigt. Ihr war völlig klar, sie durfte diesen Streit keinen Tag länger anheizen. Plötzlich tauchten überall Risse auf, wurden tiefer und breiter, auch in den innersten Geweben, und als sie in diesen Tagen Ilan anschaute, wusste sie, dass er genauso entsetzt war und nicht weniger gelähmt als sie angesichts dessen, was ihnen da widerfuhr.
    Sie erzählt, und Avram hört ihr zu, er hat die Arme fest um sich geschlungen und meint, mitten in dem hellen Nachal Zippori hole der Frost ihn ein: die Kälte eines dunklen Strafbunkers, eine Stirn, die auf den Stein knallt. Ora erzählt mit blutleeren Lippen weiter, wie Ilan und sie mitten in der Nacht aufwachten, wie sie schweigend nebeneinanderlagen und spürten, dass die Familie um sie herum zerfiel, und zwar in einem unglaublichen Tempo und mit einer zerstörerischen Kraft, die anscheinend all die Jahre gewartet hatte, um sich nun mit unbegreiflichem Eifer, ja, einer Art Rachsucht auf sie zu stürzen, und Avram verzerrt das Gesicht vor Schmerz, wiegt den Kopf hin und her, nein, nein, nein.
    Diesen Zerfall hätte sie mit ein bisschen mehr Selbstbeherrschung und Geduld wohl aufhalten können, dachte sie, als sie durch den Regen fuhr und Ilans sanfte und versöhnliche Stimme hörte, alles hing jetzt von ihr ab, von guten Worten ihrerseits, davon, dass sie das Gift abwehrte, das in ihr immer wieder hochkochen und auch sie umbringen wollte, doch plötzlich schlug sie mit beiden Händen aufs Steuerund schrie aus tiefster Seele ins Telefon, wie hat er das bloß vergessen können, sag mir das. Einen Menschen in einem Kühlraum! und sie schlug im Rhythmus ihrer Sätze mit beiden Händen aufs Lenkrad, und Avram zuckte zusammen, als schlage sie auf ihn ein – eine Nacht, einen Tag und noch eine ganze Nacht und noch einen ganzen Tag hat er sich nicht an ihn erinnert? Wo er sich doch sonst alles merkt, was getan werden muss? Jeden tropfenden Wasserhahn, jede Türklinke, er ist der gewissenhafteste Junge auf der ganzen Welt, und dann vergisst er einen Menschen, für eine Nacht und einen Tag und eine Nacht …
    Aber was willst du ausgerechnet von ihm? seufzte Ilan verzweifelt, und sie hatte den Eindruck, als sei gerade dieser

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