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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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sie, wenn sie im Bus zufällig jemanden treffe, den sie kannte, nicht in der Lage wäre zu sagen, was sie hier tue und wohin sie fahre. Manchmal dachte sie, was ist das für ein Unsinn, überleg doch nur, was Ilan, Ofer und Adamdurchmachen würden, wenn dir hier etwas passiert. Ofer würde, Gott behüte, denken, das sei dir seinetwegen passiert oder dass du seinetwegen wolltest, dass dir das passiert. Aber dennoch kam drei, vier Wochen lang jeden Tag irgendwann der Augenblick, in dem sie das Haus oder die Praxis verlassen musste und mit gesenktem Kopf konfus und ergeben bis zur nächsten Haltestelle ging, sich in einer gewissen Entfernung zu den bereits Wartenden hinstellte, die auch alle versuchten, auf Abstand zu den anderen zu gehen, und wenn der Bus kam, stieg sie ein, heftete die Augen auf den einen leeren Platz, der auf sie gewartet hatte, suchte und fand meist auch das greise Paar, das sie anscheinend schon erwartete und ihr zunickte, als seien sie traurige Verbündete. Und sie setzte sich, lehnte den Kopf ans Fenster und nickte ein, und vielleicht nickte sie auch nicht ein, fuhr einige Haltestellen weit oder eine ganze Runde, sie wusste nie im Voraus, wie viel Zeit sie im Bus verbringen musste, und war nicht in der Lage auszusteigen, bevor dieser Moment kam, in dem sie – ohne erkennbaren Grund – eine Erleichterung verspürte, als löse sich etwas in ihr, so als lasse die Wirkung eines Stoffes nach, den man ihr gespritzt hatte, und erst dann konnte sie aufstehen und aussteigen und sich wieder ihren täglichen Verpflichtungen widmen.
    Und noch etwas hatte sich verändert: Je länger sie das tat, umso besser konnte sie sich den alten Araber vorstellen, als er, nackt wie am Tag seiner Geburt, getanzt und gelacht hatte und vor den Soldaten rumgehüpft war, die ihn schließlich aus dem Kühlraum in diesem Keller in Hebron befreiten. Dieses Haus gehörte einem reichen Fleischer, erklärt sie Avram, der noch immer nichts versteht, doch sein Atem geht schon schneller und seine Blicke laufen hin und her. Die Soldaten, erinnert sie sich – wie verlegen sie von seinem nackten Tanz erzählt hatten, als wäre der das Schlimmste und Unerträglichste bei diesem ganzen Zwischenfall gewesen: Er hat den totalen Idioten gemimt, hatte ihr ein Soldat erzählt, der vor einem der Verhöre bei ihnen übernachtet hatte. Dvir hieß er, ein Kibbuznik aus Kfar Szold, zwei Meter groß, leicht stotternd, war unbeholfen und kindlich. Ora hatte ihn und Ofer zum Stab der Brigade gefahren.
    Moment mal, Ora, sagt Avram und sein Gesicht wird bleich, jetzt komm ich nicht mehr mit. Wer ist dieser Alte?
    Die Armee hat diesen Zwischenfall ziemlich ernst genommen, sagt sie nach einigen Augenblicken des Schweigens, nachdem sie sich, plötzlich erschöpft an den Rand eines großen Wasserbassins gesetzt haben, auf dem gelbe Seerosen blühen. Die Hündin springt immer wieder ins Wasser, schüttelt sich, fordert sie mit Blicken auf, es ihr gleichzutun, doch die beiden sehen sie nicht, sie sitzen in sich versunken nebeneinander.
    Obwohl Ofer sie mehrmals angefleht hatte, nicht mehr, und schon gar nicht in der Öffentlichkeit, davon zu reden, hatte Ora auch Dvir fragen müssen: Wie konntet ihr ihn dort bloß vergessen? Und Dvir hatte mit den Schultern gezuckt und gesagt, ich weiß auch nicht, vielleicht dachte jeder, dass ein anderer ihn schon rausgelassen hat, und Ofer zog wütend die Nase hoch, und Ora zwang sich, jetzt den Mund zu halten, die ganze Sache nicht noch einmal auszupacken, was auch komme, und sie fuhr weiter, die Stirn in Falten gelegt und die Schultern fast bis zu den Ohren hochgezogen. Aber wie konntet ihr einen Menschen vergessen! rutschte es ihr ein paar Minuten später doch wieder heraus. Erklär mir bloß, wie man zwei Tage lang einen Menschen in einem Kühlraum vergessen kann!
    Avram stößt vor Schmerz und Überraschung ein unkontrolliertes Stöhnen aus. Das Geräusch eines Körpers, der, aus großer Höhe geworfen, auf der Erde aufschlägt.
    Dvir schaute Ofer hilfesuchend an, doch der schwieg; nur seine Augen wurden immer dunkler, das sah Ora im Rückspiegel, konnte aber nicht mehr zurück. Dvir sagte, was soll ich Ihnen sagen, Mutter von Ofer, klar war das nicht in Ordnung, dafür kriegen wir’s jetzt auch alle ab, aber Sie müssen bedenken, jeder hatte da seine Aufgaben, und dieser verrückte Rhythmus von acht Stunden Wachdienst, acht Stunden Schlafen, acht Stunden Wachdienst, wo einem das Hirn vertrocknet, und dass sie uns

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