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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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einen sauberen, blank geputzten Eiskasten, der wie neu aussah, und natürlich vergessene winzige Einzelstücke, die zu finden ihr eine geradezu physische Freude bereitete, ein achtel Block Tasbin -Seife, eine Tube Velveta , eine Packung Diana -Tampons, genoppte Gummifingerhüte der Egged- Busfahrer, eine Sammlung getrocknete Wildblumen zwischen den Seiten eines Schulheftes, viele Schulbücher und Lesebücher aus diesem Jahrzehnt – man hatte sie unter anderem gebeten, die typische Bibliothek einer Kibbuzfamiliedieser Jahre zu rekonstruieren. Ein ums andere Mal hatte sie gesehen, wie der warme, erdverhaftete Zauber von Sami Jubran alle, denen sie begegneten, in den Bann schlug: Die alten Kibbuzniks waren überzeugt, er sei ein ehemaliger Kibbuznik (und irgendwie haben sie auch recht, flüsterte ihr Sami lachend zu, die Hälfte der Ländereien vom Kibbuz Kirijat Anavim gehört meiner Familie), und in Jerusalem, in einem kleinen Backgammon-Spielklub, stürzten sich ein paar Männer in der festen Überzeugung auf ihn, er habe als kleiner Junge in ihrem Viertel gelebt, und sie meinten sogar, sich daran zu erinnern, wie er auf die Kiefern geklettert war, um die Fußballspiele des Hapoel in Katamon zu sehen, ohne zu bezahlen. Eine energische junge Witwe in Tel Aviv mit gerösteter Haut und klingelnden Armreifen sagte zu Ora, bei der sie am nächsten Tag einfach nur so anrief, er komme zweifellos aus dem nahe gelegenen Jemenitenviertel, sei für einen Jemeniten vielleicht etwas dick, aber man sehe doch sofort, dass er so eine richtige Wurzel sei, und sie betonte, er sei wirklich äußerst charmant, so einer sei bestimmt beim Etzel gewesen, und übrigens, sagen Sie mal, haben Sie den Eindruck, dass der nette Mann solo ist? Ora beobachtete, wie Leute um seinetwillen bereit waren, sich von geliebten Gegenständen zu trennen, weil sie das Gefühl hatten, dass diese Dinge, die ihre Kinder verachteten und zweifellos nach dem Tod der Alten wegwerfen würden, in gewisser Weise in der Familie blieben, wenn man sie ihm geben würde. Bei jeder Fahrt mit ihm, und dauerte sie auch nur zehn Minuten, kamen sie auf die Politik zu sprechen und diskutierten lebhaft die neuesten Entwicklungen. Und obwohl Ora sich schon vor Jahren, als das mit Avram passiert war, völlig von der »gegenwärtigen Lage« abgeschnitten hatte – ich habe meinen Teil schon bezahlt, pflegte sie mit einem schmalen, alles abschmetternden Lächeln zu sagen –, ließ sie sich doch immer wieder zu diesen Gesprächen mit Sami verleiten; dabei reizten sie nicht seine Rechtfertigungen und Argumente, die hatte sie schon oft von ihm und von anderen gehört. Wer hat überhaupt noch ein unverbrauchtes Argument in dieser endlosen Diskussion, seufzte sie, wenn andere ihr gegenüber einen Standpunkt vertraten, wer ist überhaupt in der Lage, hier noch ein neues, maßgebliches Argument, das noch keiner gehört hat, zu erfinden. Wenn Sami und sie über »die Lage« redeten, wenn sie stichelnd und vorsichtig lächelnddiskutierten, driftete sie übrigens oft enorm nach rechts, viel weiter, als es ihren Absichten und Anschauungen entsprach, während sie gegenüber Ilan und den Söhnen immer, wie die es nannten, zumindest eine weltfremde Linke war. Für sich selbst konnte sie gar nicht genau sagen, was sie war und wo sie stand, und überhaupt, sagte sie dann und zuckte anmutig mit den Schultern, und überhaupt werden wir erst, wenn diese ganze Sache vorbei ist, wissen, wer wirklich recht gehabt hat und wer nicht. Dennoch, wenn Sami in arabeskem Hebräisch die aufgeblasene Selbstgerechtigkeit und das vorauseilende So-gerne-gekränkt-sein-Wollen sowohl der Juden wie auch der Araber auf die Schippe nahm, wenn er die politischen Führer beider Seiten mit einem arabischen Sprichwort aufspießte, das nicht selten in den Tiefen ihrer Erinnerung ein entsprechendes jiddisches Sprichwort ihres Vaters wachrief, dann meldete sich in ihr manchmal ein verborgenes körperliches Wissen, als würde ihr im Laufe des Gesprächs mit ihm plötzlich klar, dass diese ganze große Geschichte schließlich gut ausgehen müsse und auch gut ausgehen werde; sei es, weil es diesem grobschlächtigen, kartoffelförmigen Mann neben ihr gelang, in seiner fleischigen Massivität die Klinge feiner Ironie zu bewahren, und noch mehr, weil es ihm gelang, in all dem er selbst zu bleiben. Und manchmal ging ihr auch noch ein anderer Gedanke durch den Kopf: Vielleicht lernte sie ja gerade von ihm etwas, was sie irgendwann

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