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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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brauchen könnte, wenn oder falls sich die Situation im Land, Gott behüte, umkehren und sie sich an seiner Stelle befinden würde, das war ja immerhin möglich, das lauerte immer hinter der Tür, und vielleicht dachte ja auch er manchmal daran, dass eventuell auch sie ihn etwas lehrte, einfach dadurch, dass sie in all dem sie selbst blieb?
    Aus diesen Gründen lag ihr so daran, ihn, so gut sie konnte, zu beobachten und zu lernen, wie er es all die Jahre schaffte, auf der Hut zu sein und nicht zu verbittern, nicht nachtragend zu sein und, soweit sie es sehen konnte, aus seinem Herzen keine Mördergrube zu machen, was Ilan die ganze Zeit behauptete. Vor allem sah sie mit Staunen, und das würde sie zu gern von ihm lernen, dass es ihm gelang, die kleinen und großen Demütigungen, denen er Tag für Tag ausgesetzt war, nicht einem persönlichen Makel zuzuschreiben, denn sie in seiner Situation – Gott behüte – würde ebendies sofort tun, und um ehrlich zu sein, sietat genau das sehr oft in diesem letzten Jahr, das so beschissen gelaufen war. Irgendwie schaffte er es, in diesem ganzen Chaos ein freier Mensch zu bleiben, was ihr nur selten gelang.
    Jetzt schwoll in ihr der Zorn, sie hätte platzen können wegen ihrer sagenhaften Dummheit, dass sie in dieser grundlegenden und schwierigen Sache, ein feinfühliger Mensch zu sein, versagt hatte, ausgerechnet hier und in dieser Situation. Nicht einfach feinfühlig zu sein (»Feinfühlchen« hatte ihre Mutter immer gesagt, und sie hörte dieses Wort bis heute nur in der Stimme ihrer Mutter), weil sie von Natur aus nicht anders konnte, sondern bewusst und vorsätzlich feinfühlig zu sein und wider besseres Wissen aus dieser Feinfühligkeit heraus einen Kopfsprung in den hiesigen Säurekessel zu machen. Sami dagegen war wirklich ein feinfühliger Mann, auch wenn man es ihm auf den ersten Blick bei seiner Größe, seinem Gewicht und den groben Gesichtszügen nicht ansah, das hatte sogar Ilan, wenn auch mit gewissen Vorbehalten und immer mit einer Prise Misstrauen, zugeben müssen: Feinfühlig schon, bis er eine Gelegenheit bekommt, warnte er sie immer, und dann wirst du sehn, mit welchem Feingefühl unser Mohammed das Schwert führt.
    Doch all die Jahre, die sie ihn kannte, und je länger sie ihn von der Seite anschaute – das tat sie pausenlos, denn sie konnte sich nicht von der Neugierde des kleinen Mädchens beim Anblick einer angeborenen Behinderung befreien, die sie an ihm in der bloßen Tatsache seiner gespaltenen oder vielleicht doppelten Existenz hier wahrnahm –, war sie sich absolut sicher, er hatte kein einziges Mal versagt, in Sachen Feingefühl hatte er nie versagt.
    Einmal hatte er sie und die Kinder zum Flughafen gefahren, um Ilan, der von irgendeiner Reise zurückkam, abzuholen. Polizisten an der Straßensperre bei der Einfahrt nahmen ihn für eine halbe Stunde mit. Ora und die Jungen warteten im Taxi auf ihn. Sie waren noch klein, Adam war sechs, Ofer ungefähr drei, und erst bei dieser Gelegenheit erfuhren sie, dass ihr Sami Araber war. Als er bleich und verschwitzt zurückkam, weigerte er sich zu erzählen, was gewesen war, sagte nur, sie haben mich die ganze Zeit einen verpissten Araber genannt, und ich habe gesagt, vielleicht pisst ihr auf mich, aber ich bin nicht verpisst.
    Diesen Satz hatte sie nicht vergessen, sie hatte ihn in letzter Zeit sogar nachdrücklicher wiederholt, wie eine Beschwörungsformel zur Stärkung des Herzens in all den Situationen, in denen jemand in hohem Bogen auf sie pinkelte, etwa die beiden aalglatten Leiter der Praxis, in der sie bis vor kurzem gearbeitet hatte – Glättlinge nannte Avram solche Typen –, und einige befreundete Paare, die sich nach der Trennung von ihr abgewendet hatten und zu Ilan hielten, aber auch ich, dachte sie, wenn ich nur gekonnt hätte, auch ich hätte Ilan gewählt und nicht mich. Auf dieselbe Liste gehörte auch dieser Hurensohn von Richter, der ihr die Bewegungsfreiheit entzogen hatte, und auch ihre Kinder konnte man zu denen zählen, die in hohem Bogen auf sie pinkelten, vor allem Adam, Ofer nicht, fast gar nicht, sie weiß nicht, sie weiß schon gar nichts mehr, und auch Ilan, natürlich, der Meister im Bogenpinkeln, seufzte sie, denn früher, vor etwa dreißig Jahren, hatte er geschworen, es sei seine Lebensaufgabe, auf ihre Mundwinkel achtzugeben, dass sie immer schön nach oben weisen, ha ha, denkt sie und berührt unbewusst das Ende ihrer Oberlippe, die etwas runterhing, denn auch ihr Mund

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