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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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auch wenn ich deine Mutter bin?
    Um drei käme Sami und würde Ofer und sie zum Sammelpunkt bringen. Drei Uhr war das Äußerste, was sie hatte denken können, siehatte keine Kraft mehr gehabt, sich vorzustellen, was danach passieren würde, und das war wieder ein Beweis dafür, dass sie, wie sie schon lange behauptete, nicht die geringste Phantasie besaß. Aber auch das stimmte nicht mehr. Auch das hatte sich geändert, in letzter Zeit überflutetet die Phantasie sie geradezu, sie hatte eine richtiggehende Phantasievergiftung. Sami würde ihr die Fahrt erleichtern, vor allem die Rückfahrt, die bestimmt noch viel schwerer sein wird. Sie und er hatten bei gemeinsamen Fahrten schon eine familiäre Routine entwickelt, fast wie ein Paar. Sie hörte ihm gern zu, wenn er von seiner Familie erzählte, von den komplizierten Beziehungen zwischen den Großfamilien in Abu Gosh, von den Intrigen im Stadtrat und auch von der Frau, die er schon mit fünfzehn geliebt hat und die er wohl auch heute noch liebt, obwohl man ihn mit In’am, der Tochter seines Onkels, verheiratet hatte. Mindestens einmal in der Woche traf er sie im Dorf, absolut zufällig, wie er sagte. Sie war Lehrerin und hatte einige Jahre seine Töchter unterrichtet, bis sie Inspektorin für den gesamten arabischen Sektor geworden war. Seinen Erzählungen nach eine starke Frau mit eigenen Ansichten, immer lenkte er das Gespräch in eine Richtung, dass Ora nach ihr fragen konnte, und dann berichtete er beinahe ehrfürchtig: Sie habe noch ein Kind geboren, den ersten Enkel bekommen, einen Preis vom Erziehungsministerium erhalten, oder dass ihr Mann bei einem Arbeitsunfall ums Leben gekommen sei. Mit rührender Genauigkeit fasste er für Ora die zufälligen Gespräche zusammen, die sich im Minimarkt, in der Bäckerei oder bei den seltenen Malen ergeben hatten, wenn er sie mit dem Taxi chauffierte, und Ora nahm an, dass er es nur bei ihr wagte, so über diese Frau zu reden, vielleicht weil er ihr vertraute, dass sie niemals die Frage stellen würde, deren Antwort so offensichtlich war.
    Er ist ein schlauer, schnell denkender Mann, bei dem sich Lebenserfahrung mit der Gerissenheit eines guten Kaufmanns paart, was ihm unter anderem einen kleinen Fuhrpark eigener Taxis eingebracht hat: Als er zwölf gewesen war, besaß er eine Ziege, die jedes Jahr zwei Junge warf. Und für ein einjähriges Zicklein in gutem Zustand, so hatte er Ora einmal erklärt, kannst du tausend Schekel bekommen. Wenn das Zicklein bei tausend Schekel angelangt war, hab ich es verkauft und das Geld auf die Seite gelegt, immer alles auf die Seite gelegt,bis ich achttausend Schekel zusammenhatte. Und mit siebzehn hab ich den Führerschein gemacht und mir einen Fiat 127 gekauft, ein altes Modell, aber er fuhr, einem Lehrer von mir hab ich den abgekauft, ich war der einzige Junge im Dorf, der mit dem eigenen Auto zur Schule kam, und nachmittags habe ich privat Fahrten gemacht, hab hier wen abgeholt und da wen hingebracht, Sami, hol mir das, bring mir dies, so nach und nach eben.
    Im letzten Jahr, während der großen Umwälzungen in Oras Leben, hatte ein Bekannter einen Job für sie gefunden – Teilzeit und ohne feste Verpflichtungen – für ein neues Museum, das in Nevada entstehen sollte und sich aus irgendeinem Grund für Israel und vor allem für seine »materielle Kultur« interessierte. Ora mochte diese ungewöhnliche Beschäftigung, die ihr da zugefallen war und sie ein wenig von sich selbst ablenkte, und zog es vor, nicht eingehender nach den verborgenen Motiven zu forschen, nicht nachzufragen, was die Initiatoren bewogen hatte, ausgerechnet in der Wüste von Nevada Unsummen für eine Rekonstruktion des Staates Israel auszugeben. Sie gehörte zu dem Team, das für die fünfziger Jahre verantwortlich war, und wusste, dass es in anderen Teams noch einige Dutzend »Sammler« wie sie gab. Noch nie hatte sie einen von ihnen getroffen. Alle zwei, drei Wochen brach sie mit Sami zu diesen willkommenen Erwerbsexkursionen quer durchs Land auf, doch auch mit ihm vermied sie es aufgrund eines feinen Gespürs, über das Museum und dessen Absichten zu reden. Und Sami fragte auch nicht. Sie hätte gern gewusst, was er sich wohl dachte und wie er In’am von diesen Fahrten berichtete. Ganze Tage streiften sie zusammen durchs Land, kauften in einem Kibbuz im Jordantal eine Sammlung der legendären Tischabfallbehälter oder in einem Moschaw im Norden eine antike Melkmaschine oder in einem Viertel in Jerusalem

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