Eine Frau flieht vor einer Nachricht
sie. Wie viele Jahre wird es dauern, bis er sich von Talia erholt; wenn er noch Jahre hat, dachte sie und wischte den Gedanken energisch aus, kratzte ihn mit beiden Händen aus ihrem Hirn, und dennoch schlich sich bei ihr ein Bild ein. Talia kommt zu ihr, zu einem Trauerbesuch, vielleicht auch, um nachträglich von ihr Vergebung zu erhalten, und sie spürt, wie sie vor Wut rot wird, wie hast du ihn bloß so verletzen können, denkt sie und hat es wohl auch gemurmelt. Denn Ofer hatte sich zu ihr gebeugt, ihre Schultern umfasst und sie sanft gefragt, was sagst du, Mama, und für einen Moment sah sie sein Gesicht nicht, er hatte kein Gesicht, ihre Augen starrten ins Leere, der pure Schrecken. Nichts weiter, kicherte sie, ich hab nur an Talia gedacht, hast du in letzter Zeit mal mit ihr gesprochen? Ofer machte eine Handbewegung, lass gut sein, das ist vorbei.
Pausenlos hatte sie geschaut, wie spät es war. Auf ihrer Uhr, auf seiner Uhr, auf den großen Uhren im Einkaufszentrum, auf den Digitalanzeigen der Fernsehgeräte in den Schaufenstern. Auch die Zeit benahm sich seltsam, mal flog sie ein paar Minuten, dann kroch sie oder blieb völlig stehen. Ohne größere Mühe müsste sie sich, so empfand es Ora, auch zurückdrehen lassen, gar nicht viel, jedes Mal eine Stunde oder eine halbe, das wäre in Ordnung, vielleicht konnte man ja diese großen Dinge – die Zeit, das Schicksal, Gott – mit kleinen, sogar kleinlichen Feilschereien mürbe machen. Sie waren in die Stadt gefahren, in ein Restaurant am Markt, und hatten wahnsinnig viel bestellt, doch beide hatten eigentlich keinen Appetit. Er versuchte, sie aufzumuntern, erzählte Erlebnisse von der Straßensperre bei der Siedlung Tapuach, sieben Monate hat er dort gedient, und erst jetzt erfuhr sie, dass er Tausende von Palästinensern, die diese Straßensperre passierten, mit einem einfachen Metalldetektor kontrolliert hatte, solche Dinger, die man auch an den Eingängen zum Einkaufszentrum benutzt. Mehr hattest du nicht? flüsterte sie, und er lachte, was dachtest du denn, was wir da haben? Sie sagte, nichts hab ich gedacht. Und er fragte, hast du dir nie überlegt, wie man das macht? In seiner Stimme schwang einekindliche Enttäuschung, und sie sagte, aber du hast nie davon erzählt. Er wandte ihr sein Profil zu, das ausdrückte, und du weißt auch genau, warum nicht, doch bevor sie etwas sagen konnte, streckte er schon seine breite, gebräunte rauhe Hand aus, legte sie auf ihre, und diese einfache und beinahe seltene Berührung verwirrte sie und ließ sie verstummen. Es war, als wolle Ofer im allerletzten Moment nachholen, was er versäumt hatte, und er erzählte eilig von der Pillbox , in der er vier Monate lang gegenüber den nördlichen Ausläufern von Jenin gewohnt hatte, wie er jeden Morgen um fünf aufgestanden war, um das Tor im Zaun um die Pillbox herum aufzuschließen und zu untersuchen, ob die Palästinenser in der Nacht das Tor vermint hatten. Sie fragte, bist du da einfach so hingegangen, ich meine, allein? Und er sagte, normalerweise hat mich einer aus der Pillbox gedeckt, wenn schon jemand wach war. Sie wollte noch mehr fragen, aber ihr Hals war trocken, und Ofer zuckte die Schultern und sagte mit der Stimme eines alten Palästinensers kullo min Allah , alles kommt von Gott, und sie flüsterte, das wusste ich nicht, und er lachte ohne Bitterkeit, als habe er sich schon abgefunden, man konnte von ihr eben nicht erwarten, solche Sachen zu wissen. Er erzählte ihr von der Altstadt von Sichem, das sei der interessanteste von allen Märkten, der älteste, da gebe es noch Häuser aus der Römerzeit und Häuser, die wie Brücken über die Gassen gebaut sind, und unter der ganzen Stadt führe ein Bewässerungskanal von Ost nach West, mit Gängen und Kanälen in alle Richtungen, da leben die gesuchten Terroristen, sie wissen, dass wir uns da nicht runtertrauen. Er erzählte begeistert, wie von einem neuen Computerspiel, und sie kämpfte die ganze Zeit gegen ihren Drang, seinen Kopf mit beiden Händen zu packen und ihm in die Augen zu schauen, um seine Seele zu sehen, die ihr schon seit Jahren entwischt – lächelnd, sehr lieb, mit einem Augenzwinkern, als sei es ein lustiges Fangspiel, das sie da beide spielten –, doch sie traute sich nicht, das zu tun. Sie schaffte es auch nicht, ihn einfach, ohne dass ihre Stimme gleich den feuchten Ton einer Beschwerde oder Anschuldigung bekam, zu fragen: Sag mal, Ofer, warum sind wir nicht mehr Freunde, so wie früher,
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