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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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Vater zu überzeugen, schließlich diese Operation vornehmen zu lassen, und dank Ofer habe ihr Vater vor seinem Tod noch ein paar gute Jährchen gehabt. Während sie erzählte, dachte sie daran, dass Ofer es ist, der die Anekdoten und Erinnerungen ihrer Kindheit in seiner Erinnerung aufbewahrt, ihre Geschichten über die Schule und ihre Freundinnen, über ihre Eltern und die Nachbarn in dem Viertel in Haifa, wo sie aufgewachsen war. Ofer durchlebte diese kleinen Geschichten mit einer Wonne, die sie sich bei einem Jungen seines Alters nicht hätte träumen lassen; er holte sie auch immer in den richtigen Augenblicken hervor, und in einer verborgenen Ecke ihres Herzens spürte sie, dass er auf diese Art ihre Kindheit und Jugend für sie aufbewahrte. Vermutlich deshalb hatte sie sie ihm über all die Jahre anvertraut und fast unmerklich auf Ilan und Adam als Zuhörer für ihre Erinnerungsflocken verzichtet. Sie seufzte und spürte sofort, dies war ein anderes, ein neues Seufzen, es riss sich von einem anderen Ort in ihr los und hatte einen Eisstachel am Ende, und sie erschrak, für den Bruchteil einer Sekunde war sie wieder Mädchen und kämpfte mit Ada, die unbedingt ihre Hand loslassen und vom Rand des Felsens springen wollte, schon seit Jahren war sie nicht mehr mit ihr dort gewesen, wie kam Ada plötzlich zu ihr zurück und hielt sie an der Hand, um sie loszulassen. Und sie plapperte trotz Samis und Ofers Schweigen weiter und war noch deprimierter darüber, dass es den beiden Männern, trotz allem, was sie jetzt voneinander trennte, gelang, sich gegen sie zu verbünden, ja, hier wurde gerade ein Bund geschlossen, verstand Ora endlich, ein Bund auf ihre Kosten, und der würde sich als tiefer und effektiver erweisen als alles, was die beiden trennte und Zwietracht stiftete.
    Ein lautes Naseschnäuzen unterbrach ihre Worte mit solcher Gewalt, dass sie verstummte. Ofer war erkältet oder gegen etwas allergisch. In den letzten Jahren hatte bei ihm in den Aprilmonaten eine Allergie angefangen, die sich meist fast bis Ende Mai hinzog. Er putztesich die Nase mit einem Papiertaschentuch aus dem verzierten kleinen Holzkästchen, das Sami hinten für seine Fahrgäste angebracht hatte. Er zog ein Tuch nach dem anderen heraus, trompetete laut, knüllte es zusammen und stopfte es in den Aschenbecher an seinem Sitz, der schon überquoll. Sein Galil-Sturmgewehr stand zwischen ihm und ihr, und der Lauf wies schon seit einer Weile auf ihre Brust, doch jetzt konnte sie es nicht mehr ertragen und machte ihm ein Zeichen, er solle ihn von dort abwenden. Aber als er die Waffe mit einer kantigen, ärgerlichen Bewegung zwischen die Beine nahm, ritzte die Kimme des Visiers die Innenpolsterung der Wagendecke und riss dort einen Streifen Stoff heraus, und Ofer sagte sofort, tut mir leid, Sami, ich hab hier was eingerissen, und Sami warf einen kurzen Blick auf das runterhängende Stoffröllchen und sagte heiser, nicht so schlimm, und Ora sagte, nein, keine Frage, wir bezahlen die Reparatur, und Sami holte tief Luft und sagte, lass schon, nicht so schlimm, und Ora flüsterte Ofer zu, er solle wenigstens das Schulterstück einklappen, und Ofer protestierte halb flüsternd, das mache man nicht, das werde nur im Panzer eingeklappt, und Ora beugte sich vor und fragte Sami, ob er eine Schere im Wagen habe, dann könnte sie das Röllchen abschneiden, aber er hatte keine, und sie hielt das Röllchen fest, das vor ihrem Gesicht tanzte, sich kringelte und für sie einen Moment lang wie ein entleerter Darm aussah, und sagte, man könne es vielleicht mit Nadel und Faden nähen, wenn du so was hier hast, mach ich das gleich, und Sami sagte, seine Frau würde das schon machen, und fügte hinzu, ohne jede Farbe in der Stimme, passt mir bloß mit der Waffe auf – warum sprach er sie beide zusammen an –, dass sie mir nicht die Sitzbezüge einreißt, die hab ich erst letzte Woche neu draufgemacht. Und Ora sagte mit einem verzerrten Lächeln, das war’s jetzt aber auch, Sami, mehr Schaden richten wir nicht an, und sah, wie er die Lider wie Fensterläden vor einem Blick schloss, den sie nicht kannte.
    Bei einer belanglosen Fahrt letzte Woche hatte Ora zum ersten Mal die neuen Bezüge gesehen, synthetisches Tigerfell. Sami hatte ihre Gesichtszüge wach verfolgt und sie auch gleich gedeutet: Die gefallen dir nicht, Ora, die findest du nicht schön, oder? Sie sagte, ganz grundsätzlich könne sie sich nicht für Bezüge aus Tierfell begeistern, noch nicht einmal

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