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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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einer Gewehrpatrone oder einer Rakete morgen oder übermorgen treffen kann, vielleicht schon heute Nacht – merkwürdig, bloß die Bewegung dieses Jugendlichen stört die Langsamkeit und den Ernst dieser ganzen Choreographie. Und auch die Überbringer der Nachricht, deren Kenntnis des Prozedere, wie man so eine Botschaft überbringt, vielleicht in ebendiesem Augenblick im Büro des Standortkommandanten Jerusalem aufgefrischt wird, und im Grunde auch Sami, der um diese Zeit bestimmt zu Hause in seinem Dorf sitzt undseiner Frau In’am die Ereignisse des Tages erzählt – sie alle sind Teil dieses gewaltigen, allumfassenden Vorgangs; auch die Ermordeten des letzten Anschlags sind, ohne es zu wissen, Teil davon, die Ermordeten, deretwegen die Soldaten jetzt zu diesem neuen Einsatz ausrücken, um ihren Tod zu rächen, und sogar diese Kartoffel, die plötzlich in ihrer Hand schwer wird wie Eisen, sie kann sie nicht mehr weiterschälen, die Finger gehorchen ihr nicht, auch die Kartoffel kann ein Glied darin sein, winzig, aber unerlässlich und nicht austauschbar, in diesem finsteren, wohlbedachten und feierlichen Vorgang, der Tausende von Menschen, Soldaten und Zivilisten, Fahrzeuge und Waffen, Feldküchen, Feldverpflegung, Waffenkammern, Kisten mit Ausrüstung, Landkarten, Ferngläser, Taschenlampen, Formulare, Schlafsäcke, Verbandsmaterial, Nachtsichtgeräte und Signalmunition, Krankentragen, Hubschrauber, Wasserflaschen, Computer, Antennen, Feldtelefone und große schwarze, undurchsichtige Plastiksäcke bewegt. All das, spürt Ora plötzlich, samt den sichtbaren und verborgenen Fäden, an denen es zusammenhängt; die werden wie ein riesiges feinmaschiges Fischernetz mit einer ausladenden Bewegung über sie ausgeworfen und breiten sich langsam über den ganzen nächtlichen Himmel aus, und Ora schmeißt mit aller Gewalt die Kartoffel weg, die rollt auf dem Boden weiter und bleibt zwischen Kühlschrank und Wand mit ihrem bleichen Schein liegen, und Ora stützt sich mit beiden Händen auf den Tisch und starrt sie an.

    Um neun Uhr abends geht sie schon die Wände hoch, sie meint, völlig überrascht, im Fernsehen sich selbst und Ofer zu sehen, wie sie sich am Treffpunkt seiner Kompanie zum Abschied umarmen, und sie erinnert sich, ja, man hatte dort gefilmt, und sie bangt, denn das war nur einen Augenblick nachdem Ofer sie wegen Sami so angefahren hatte, aber er hatte gleich aufgehört, hatte ihr sich rötendes Gesicht gesehen und in seiner stürmischen Wut die Arme um sie gelegt, sie an seine breite Brust gedrückt und einfühlsam gesagt, Mama, Mama, wo lebst du denn? … Sie springt auf, schmeißt fast den Stuhl um und drückt ihr Gesicht an die Scheibe, an ihn …
    Der sie dort mit leicht herrischer Überheblichkeit umarmt und sie zur Kamera dreht (wie sehr hatte seine Bewegung sie überrascht, beinahwäre sie gestolpert, und sie hielt sich kichernd an ihm fest, alles ist aufgezeichnet, die idiotische lila Tasche), um dem Kameramann seine besorgte Mutter zu präsentieren. Wenn sie jetzt zurückdachte – war das nicht ein ziemlicher Vertrauensbruch gewesen, wie er sie plötzlich umgedreht und der Kamera ausgesetzt hatte? Ihre Hand war hochgefahren, um zu prüfen, ob ihr Haar nicht zu durcheinander war, und dann verzog sich ihr Mund sofort zu diesem verlogenen, sich klein machenden Lächeln, diesem Ausdruck von: »Was, ausgerechnet mich?«; doch der Vertrauensbruch glühte bereits seit gestern Abend zwischen ihnen, seit er beschlossen hatte, sich freiwillig zu diesem Einsatz zu melden und es ihr verheimlicht hatte, und als er, ohne groß zu zögern, wie sie glaubte, auf ihren gemeinsamen Ausflug verzichtet hatte. Doch ein noch größerer Vertrauensbruch, ja eine unerträgliche Fremdheit lag in seiner Fähigkeit, so sehr ein In-den-Krieg-ziehender-Soldat zu sein, und darin, dass er seine Rolle, hochmütig, jubelnd und kriegsbegeistert zu sein, dermaßen gut erfüllte und damit auch ihr ihre Rolle, verknittert und grau zu sein, aufzwang, und dennoch stolz zu strahlen, eine Soldatenmutter, und dazu noch so absolut blöde, angesichts der Schachzüge der Männer gegenüber dem Tod anmutig und unwissend zu zwinkern. Schau, jetzt lächelt er in die Kamera, und ihr Mund – im Fernsehen wie zu Hause – imitiert, ohne es zu merken, sein strahlendes Lächeln, und hier sind die drei kleinen bezaubernden Falten um seine Augen, und sie wehrt den Gedanken ab, wann man dieses Bild von ihm wieder senden wird, sie sieht schon auf dem

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