Eine Frau flieht vor einer Nachricht
Bildschirm einen roten Kreis um seinen Kopf, ganz eindeutig und wirklich, doch da schiebt sich ein schwarzer Balken zwischen ihn und sie. Was sagt ein Sohn seiner Mutter in so einem Moment? fragt der Reporter ganz und gar hemdsärmelig. Dass sie mir das Bier kalt stellt, bis ich zurückkomm, lacht der Sohn, und rundherum herzlicher Applaus. Einen Moment noch! stoppt Ofer den Jubel, hebt den Zeigefinger, zieht die Aufmerksamkeit des Reporters, des Kameramanns und aller, die um sie herumstehen, ohne die geringste Anstrengung auf sich – das war auch so eine Bewegung von Ilan, regt Ora sich jetzt auf, von einem, der weiß, dass immer Ruhe herrschen wird, wenn er so den Finger hebt –, ich hab ihr noch was zu sagen, sagt ihr Sohn da im Fernsehen, lächelt vielsagend, legt seine Lippen an ihr Ohr, sein unverdecktesAuge schaut in die Kamera und funkelt voller Vitalität und Schalk, sie erinnert sich an diese Berührung, an seinen warmen Atem auf ihrer Wange, und sieht, wie die Kamera sich gleich da reindrängen will, zwischen den Mund und das Ohr, sieht auch den aufmerksam lauschenden Gesichtsausdruck, den sie aufgesetzt hat, und wie sich ihre Armseligkeit und ihr Betteln jetzt vor aller Augen offenbart, während sie selbst die Liebe und Nähe des Sohnes zu seiner Mutter zur Schau stellt, auf dass alle sehen, vor allem Ilan – kriegt er wohl da auf seinen Galapagosinseln das zweite Programm rein? –, was für eine natürliche und sanfte Vertrautheit zwischen ihr und Ofer herrscht, und hier hat die Regie dann endlich einen Schnitt gemacht, und der Reporter witzelt bereits mit einem anderen Soldaten und dessen Freundin, die ihn zusammen mit seiner Mutter umarmt, beide in nabelfreien Hemdchen, und Ora sticht es gleich zweimal. Schwerfällig sinkt sie auf die Sesselkante, fasst nach der Haut ihres Halses, bewegt sie zwischen Daumen und Zeigefinger, ein Glück, dass man nicht gesehen hat, wie ihr Gesicht sich verzerrte, wie sie erschrak, als sie hörte, was er ihr ins Ohr flüsterte, und diese Erinnerung reißt ihr den Nacken zurück, warum hat er mir das sagen müssen, wann hat er sich diesen Satz überhaupt ausgedacht, woher hatte er diese Idee.
Sofort steht sie auf. Jetzt bloß nicht sitzen. Dem schon nach ihr suchenden Lichtstrahl, dem riesigen, langsam sich herabsenkenden Fischernetz bloß kein ruhendes Ziel bieten. Sie horcht zur Tür hin. Nichts. Aus dem Fenster sieht sie einen Ausschnitt Straße mit Gehweg. Sie schaut genau, noch steht kein fremdes, unbekanntes Auto dort, auch keines mit einer Militärnummer, und sie hört kein nervöses Bellen der Nachbarhunde, keine Delegation der Engel des Bösen, dazu ist es sowieso noch zu früh. Nicht für die, widerspricht sie sich sofort, die kommen auch um fünf Uhr früh, gerade dann, da erwischen sie dich halb schlafend, schlaff, schutzlos und viel zu schwach, um sie, noch bevor sie die ihnen aufgetragene entscheidende Zeile aufsagen können, die Treppe runterzustoßen. Aber jetzt ist es trotzdem noch zu früh, und sie hat ehrlich gesagt auch nicht das Gefühl, dass in den wenigen Stunden seit ihrem Abschied schon etwas passiert sein kann, sie massiert sich den Nacken, lockert ihn, beruhig dich, er ist noch mit seinen Freunden am Gilboa, da gibt es Prozeduren, Papierkram, Anleitungen,allerlei komplizierte Modalitäten. Vor allem müssen sie zunächst ihre Gerüche gut miteinander vermischen, gemeinsam die Stärke des Blitzes in den Augen, den Puls am Hals aufeinander abstimmen. Sie kann regelrecht spüren, wie Ofer sich von seinen Freunden auf den neuesten Stand bringen lässt, über das genaue Ausmaß ihrer Aggressivität, wie dick die Kampfmischung ist, die in ihnen fließt, über ihre gut unterdrückte Angst. Das Entscheidende empfängt und gibt er während einer flüchtigen Umarmung weiter, drückt eine halbe Brust an eine halbe Brust, klopft dreimal auf den Rücken, Pulsschläge der Identität, Lochkarten gleich. Ohne es zu merken, zieht es sie zur Tür seines Zimmers, in dem ab heute alles erstarren wird, und sie sieht, das Zimmer ist schneller gewesen als sie, es trägt bereits den starren Ausdruck eines verlassenen Ortes, die Gegenstände wirken verwaist, seine Sandalen mit den offenen Riemen, der Stuhl am Computertisch, die Geschichtsbücher aus der Schule, die am Bett standen, denn er mochte Geschichte, er mag, natürlich, er mag Geschichte und wird auch weiterhin Geschichte mögen, und alle Bücher von Paul Auster auf dem Regal, und die
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