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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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dass er nicht weitergegangen, sondern irgendwo hinter ihr wie angewurzelt stehengeblieben war und auf die Erde schaute. Sie ging zu ihm zurück und sah zu seinen Füßen den Kadaver eines kleinen Singvogels, den sie nicht identifizieren konnte, mit schwarzen Federn, weißem Bauch und braunen Glasaugen. Ameisen, weiße Würmer und Fliegen machten sich schon über ihn her. Zweimal rief sie ihn beim Namen, bevor er sich losmachen konnte und wieder hinter ihr herlief. Wie lang kann ich ihn noch mitschleppen, fragte sie sich, bevor er lostobt oder einfach zerbricht? Was tu ich ihm da an? Was hab ich Sami angetan? Was ist mit mir los? Ich mach es allen nur schwer.
    Plötzlich beschrieb der Weg eine scharfe Biegung und führte direkt in den Fluss. Ora trat nahe ans Ufer und sah, dass der Weg sich auf der anderen Seite gewunden und unbekümmert fortsetzte. Bei der Vorbereitung auf den Ausflug hatten sie und Ofer gelesen, dass man in den Frühlingsmonaten »ab und zu auch ein bisschen nasse Füße bekomme«,doch der Fluss hier floss heftig, einen anderen Weg gab es nicht, und denselben Weg zurückgehen konnte sie nicht – auch das war eines ihrer neuen Gesetze, eine List gegen die Verfolger, die ihr nachjagten, sie durfte nicht denselben Weg zurückgehen. Avram kam zu ihr, schaute in das schillernde grüne Wasser, starrte es an wie ein riesiges Rätsel, das geheimnisvolle Andeutungen flüsterte, und seine dicken Arme hingen schlaff an ihm herunter. Seine Hilflosigkeit brachte sie plötzlich auf, und über sich selbst war sie wütend, dass sie nicht vorher herausgefunden hatte, was man an so einem Ort macht, aber vorher hatte sie noch Ofer gehabt, Ofer hatte ihr den Weg zeigen und für sie auch Brücken über das Wasser bauen sollen, und jetzt war sie hier allein mit Avram. Allein.
    Sie trat noch näher ans Ufer und gab acht, nicht auszurutschen. Ein großer, blätterloser Baum stand im Wasser, und sie beugte sich zu ihm vor, so weit sie konnte, und versuchte, einen seiner Äste abzubrechen. Avram rührte sich nicht. Hypnotisiert schaute er in die Strömung und zuckte zusammen, als der trockene Ast brach und Ora mit ihm fast ins Wasser fiel. Wütend rammte sie den Ast in den Grund des Flusses, zog ihn dann heraus, hielt ihn an ihren Körper, um die Wassertiefe abzulesen. Die Feuchtigkeit reichte ihr bis zur Hüfte. Setz dich, sagte sie zu Avram, und zieh Schuhe und Socken aus.
    Sie selbst setzte sich auf den Weg, zog sich die Schuhe aus, stopfte die Socken in die Seitentaschen des Rucksacks, band, nachdem sie sie durch die Schlaufen am oberen Teil gefädelt hatte, die Schnürsenkel zusammen, krempelte die Hosen bis unters Knie hoch, und als sie für einen Moment den Blick hob, stand Avram oberhalb von ihr und schaute ihre Füße so an, wie er Flüsse anschaute.
    Hey, sagte sie sanft, etwas überrascht, und schwenkte ihre rosigen Finger in seine Richtung, juhu!
    Sofort wandte er den Blick ab, setzte sich hin, zog sich Schuhe und Socken aus, krempelte die Hosen bis zum Knie herauf, so dass seine bleichen, dicken Beine sichtbar wurden, sie waren etwas krumm und überraschend kräftig, sie erinnerte sich gut: Reiterbeine, und ein bisschen auch, wie er mal gesagt hatte, die Beine eines Zwergs, den man in die Länge gezogen hatte …
    Hey, brummte er ihr leicht tadelnd zu, juhu.
    Ora wandte den Blick ab und lachte gerührt, weil der alte Avram ausseiner Dumpfheit aufflackerte, und vielleicht auch, weil sie plötzlich seinen Körper sah.
    Sie saßen beide da und schauten ins Wasser. Eine durchsichtigviolette Libelle flog wie ein Irrlicht vorbei. Früher, dachte Ora, bin ich in seinem Körper zu Hause gewesen. Danach war ich über Jahre die Hausmutter seines Körpers, habe ihn gewaschen, saubergemacht, abgetrocknet, ihm die Haare geschnitten, ihn rasiert, verbunden, gefüttert und was sonst noch alles.
    Sie zeigte ihm, wie man die Schuhe an den Rucksack band, neben die von Ofer, und schlug ihm vor, die Hosentaschen zu leeren, damit seine Sachen nicht nass würden, Papiere, Ausweise, was auch immer, und er zuckte mit den Schultern, was für Ausweise, was für Geld. Noch nichtmal ein Personalausweis? fragte Ora nach, und Avram murrte, was soll ich mit dem?
    Sie stieg, den Ast in der Hand, vor ihm ins Wasser und stieß wegen der Kälte und der starken Strömung einen kleinen Schrei aus. Was würde sie machen, wenn es Avram plötzlich fortreißen würde, überlegte sie für einen Moment, vielleicht darf er sich in seinem Zustand gar

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