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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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zerbröselt, vielleicht hatte er im Laufe der Jahre ja doch ein bisschen Kraft gesammelt, vielleicht sogar ein bisschen Existenzfestigkeit – eine Wortschöpfung von ihm, meinte sie zumindest, ein Stück Avram von früher. Sie musste schon nicht mehr jedes seiner Gelenke beugen und ihn bewegen, Knöchel, Knie und Hüftgelenk, damals war sie die Bildhauerin eines einzigen Körpers gewesen, war mit ihm zu den Anwendungen und zur Physiotherapie gegangen, hatte ihn zum Training und ins Schwimmbad begleitet, hatte am Rand gesessen, genau beobachtet und auswendig gelernt, für sich in einem Heft aufgeschrieben und skizziert, was sie sah, hatte ihn gezwungen, heimlich auch mit ihr, zwischen den professionellen Behandlungen, zu arbeiten, in seinen schlaflosen Nächten – neun Monate hatte es gebraucht, bis sein Körper die Stellungen lernte, die sie für ihn entworfen hatte. Meine Choreografin, so hatte er sie einmal murrend einem der Ärzte auf der Station vorgestellt und ihr damit verraten, dass noch immer ein bisschen von Avram existierte, nur eben in seiner Schale. Jetzt stieß er den Atem aus und begann, seine Bewegungen aufzutauen, er streckte die Arme nach hinten, Schulter, Gelenk, Ellbogen, Handgelenk – alles funktioniert, bemerkte Ora, ausladende diagonale Bewegungen der großen Muskeln –, er schaute auf den Fluss und glaubte nicht, dass er ihn tatsächlich durchquert hatte, er lächelte Ora verlegen an, ein Viertel seines alten Charmes flackerte auf. Oj, stöhnte sie mit einem schmerzvollen Stich im Herzen, mein alter verpasster Geliebter, und schickte ein gemessenes Lächelnzurück, sie nahm sich in Acht, ihn nicht zu überschwemmen, das war noch eine Weisheit, die sie in ihrem langen Leben unter dem Männervolk gelernt hatte, die Klugheit, nicht zu überschwemmen.
    Sie zeigte ihm, wohin er sich setzen konnte, wie er die Füße stellen sollte, damit sie schneller trockneten, und holte aus der Seitentasche ihres Rucksacks ein paar Cracker, Schmelzkäse und zwei Äpfel und streckte sie ihm hin, er kaute langsam und bedächtig, schaute sich mit seinem misstrauisch prüfenden Blick um und blieb immer wieder an ihren langen schmalen Füßen hängen, die nach dem Kälteschock ganz rosa waren, und wandte sofort den Blick ab.
    Dann richtete er den Kopf langsam zwischen den Schultern auf, spreizte die Ellbogen etwas vom Körper ab, alles in vorsichtigen Bewegungen, wie ein riesiges Dinosaurierküken, das aus dem Ei schlüpft, und schaute grübelnd auf das andere Ufer. Ora meinte, jetzt, nachdem er den Fluss durchquert hatte, glaubte er wirklich, dass er, was gewesen war, hinter sich gelassen hatte und dass nun etwas völlig Neues käme.
    Noch bevor er erschrecken konnte, sprach sie ihn an, lenkte ihn ab, zeigte ihm, wie er die dicken Schlammkrusten, die an seinen Beinen schon trockneten, abschälen konnte, und sie klopfte sich leicht auf die Beine, um die Blutzirkulation anzuregen. Danach zog sie sich Socken und Schuhe wieder an und band die Schleifen so, wie Ofer es ihr beigebracht hatte – sie mochte das Gefühl, dass er sie bei diesem Halten und Festziehen auch aus der Ferne hielt, und überlegte, ob sie versuchen sollte, Avram davon zu erzählen, wie Ofer, als er ihr die Sache mit den doppelten Schlaufen beibrachte, gesagt hatte, er sei überzeugt, dass kein zukünftiger Apparat den Menschen bei der simplen Tätigkeit des Schuhezubindens ersetzen könne. Egal, was man alles erfinden wird, dies wird immer bleiben, und so werden wir uns jeden Morgen daran erinnern, dass wir menschlich sind. Ihr Herz war damals weit geworden und schier übergelaufen, vielleicht weil er so ungezwungen »menschlich« sagen konnte, mit so einer Menschlichkeit. Da hatte sie den Ausspruch von Nahum Gutman zitiert, der in dem Buch Der Weg der Orangenschalen erzählte, jeden Morgen, wenn er sich die Schuhe zubinde, pfeife er aufgeregt, »denn ich freue mich auf den neuen Tag, der beginnt«, und natürlich erinnerten sie sich beide dann an Opa Mosche, ihren Vater, der siebzehn Jahre lang dasselbe Paar Schuhe getragenhatte, die sich nicht abnutzten, weil er in ihnen, wie er immer erklärte, »so leichtfüßig ging«. Ora hatte sich damals nicht beherrschen können und Ofer erzählt – sie meinte, ihm diese Geschichte schon einmal erzählt zu haben –, dass sie, als er etwa eineinhalb Jahre alt war und sie ihm seine ersten Schuhe anzog, aus Versehen den rechten und den linken Schuh verwechselt hatte. Allein der Gedanke, sagte sie, dass du

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