Eine Frau flieht vor einer Nachricht
dass er sie nicht gebeten hatte, ihm ins Bett zu helfen. Morgen würde ihm der ganze Rücken weh tun.Doch dann hörte er voller Schrecken, dass sie in seinem Schlafzimmer zugange war. Er versuchte aufzustehen, wollte sie von dort verjagen, aber seine Arme und Beine waren wie Wasserschläuche. Er hörte, wie sie dort nach dem Lichtschalter tastete, aber da gab es keine Glühbirne. Ich hab vergessen sie zu wechseln, murmelte er, das mach ich morgen. Danach hörte er wieder Schritte. Sie kommt raus, dachte er erleichtert. Dann hielten die Schritte an, es folgte eine lange Stille. Er erstarrte in seinem Sessel, er wusste, was sie jetzt anschaute. Komm da raus, brummte er stimmlos. Sie räusperte sich trocken und ging das Licht im Flur anmachen, um besser sehen zu können. Hätte er gekonnt, er wäre aufgestanden und hätte die Wohnung verlassen.
Avram, Avram, Avram, wieder ihre Stimme und ihr Atem in seinem Gesicht, du kannst hier nicht alleine bleiben, flüsterte sie, und in ihrer Stimme schwang schon etwas Neues, sogar er bemerkte das. Nicht die Panik von vorher, sondern ein Wissen, das ihn noch mehr beunruhigte. Wir müssen zusammen fliehen, du hast keine Wahl, wie blöd ich war, du hast ja gar keine andere Wahl. Und er wusste, sie hatte recht, doch schlangen sich schon warme Fäden um seine Waden, er spürte, sie kamen höher, umwanden mit einer Art präziser mütterlicher Hingabe bereits seine Knie und Hüften und spannen ihn gut und weich ein, so dass er die Nacht in dem Kokon verbringen könnte. Ein paar Jahre schon hatte er kein Prodormin mehr genommen, Neta hatte es ihm verboten, und die Wirkung war jetzt gewaltig: Seine Beine lösten sich auf. Noch einen Augenblick, dann würde eine weitere mühevolle Schicht des Wachseins enden, und er wäre sich selbst für fünf, sechs Stunden los. Jetzt hast du Socken und Schuhe an, sagte Ora und richtete sich auf, komm, gib mir die Hand und versuch aufzustehen. Er atmete langsam und schwer, seine Augen waren geschlossen, sein Gesicht war angestrengt. Wenn er sich bloß einen Moment konzentrieren könnte, wenn sie bloß einen Moment die Klappe halten würde. Er ist doch schon fast dort, es ist eine Sache von Sekunden, aber auch sie scheint das zu wissen, denn sie lässt nicht locker, bleibt ihm auf den Fersen, wie kommt es, dass man sie da überhaupt reinlässt, immer wieder ruft sie ihn beim Namen, rüttelt ihn an den Schultern, was die für eine Kraft hat, sie war immer schon stark, schlank und stark, hatte ihn beim Armdrücken untergekriegt, denk nicht nach, erinnre dich nicht,denn jenseits ihres Schreiens spürt er jetzt endlich den leichten Nebel des Schwindels, der sich für ihn bildet, dort auf ihn wartet, eine zähe Stille, eine Kuhle genau in der Form seines Körpers, weich wie eine Handfläche, und eine Wolke wird das Ganze zudecken.
Ora stand vor dem schlafenden Mann im Sessel. Drei Jahre hab ich ihn nicht gesehen, dachte sie, und jetzt habe ich ihn noch nicht mal umarmt. Wie er so dalag, mit auf die Brust gesunkenem Kinn, richteten sich die Bartbüschel um seinen Mund auf und gaben ihm das Aussehen eines betrunkenen Trolls, bei dem man nur schwer entscheiden konnte, ob er gutherzig oder verbittert und grausam war. Schau mal, wie merkwürdig, mit diesen Worten hatte er sich einmal nackt vor sie hingestellt, als sie einundzwanzig waren: Plötzlich merke ich, dass ich ein gutes und ein schlechtes Auge habe. Genug jetzt, sagte sie zu der Ruine seines Körpers, du musst mitkommen. Nicht nur meinetwegen, sondern auch deinetwegen, stimmt’s? Du verstehst das doch, oder? Er schnarchte leicht, und sein Gesicht entspannte sich. Als sie eben in seinem Schlafzimmer gewesen war, hatte sie bemerkt, dass die Wand über seinem Bett mit schwarzem Bleistift merkwürdig bekritzelt war. Erst dachte sie, eine kindliche Zeichnung von Eisenbahnschienen oder ein unendlich langer Zaun, der in Schlangenlinien über die ganze Breite der Wand hin und her führt, Zeile für Zeile, von der Decke bis hinunter auf die Höhe des Bettes, die Zaunlatten in der Mitte durch kurze schiefe Stäbe miteinander verbunden. Dann hatte sie den Kopf zur Seite geneigt und genauer hingeschaut: Diese Striche sahen auch aus wie die langen Zähne eines Kamms oder Rechens oder irgendeines Urtiers. Schließlich entdeckte sie hier und da verstreut kleine Ziffern und begriff, dass es Daten waren. Direkt am Kopfkissen stand das Datum des Tages, der mit diesem Abend zu Ende ging, und daneben ein kleines
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