Eine Frau flieht vor einer Nachricht
nicht in so eine Strömung begeben, und sie beschloss sofort, auf eigene Verantwortung und ohne Gegenstimmen, dass das in Ordnung sei, sie habe ja keine andere Wahl. Sie setzte einen Fuß vor den anderen, kämpfte gegen die Strömung, die ihr schon bis zum Nabel ging und so gewaltig war, dass sie Angst hatte, die Füße vom Grund zu heben. Aber Avram wird okay sein, beschloss sie wieder, erschrocken, er wird in dieses Wasser reingehen, und ihm wird nichts passieren. Sicher? Ja. Warum? Weil es so ist. Weil sie in der letzten Stunde, eigentlich während der letzten vierundzwanzig Stunden, in sich so eine gleichermaßen entschiedene wie verzweifelte aber beständige Entschlossenheit spürte, die sie ein ums andere Mal die Leute und die Handlungen um sich herum beschwören ließ, dass sie genau so handelten und sich genau so ereigneten, wie sie es brauchte; da gab es gar keinen Platz zum Verhandeln oder Nachgeben, Ora forderte blinden Gehorsam gegenüber den Gesetzen, die pausenlos in ihr verabschiedet wurden, und gegenüber den neuen Verordnungen wegen des Notstands, der über sie gekommen war. Eines der Gesetze, wenn nicht überhaupt das wichtigste, lautete, immer in Bewegung zu sein, und jetzt musste sie ohnehinweiter, denn das kalte Wasser war schon dabei, den ganzen Fischteil ihres Körpers erstarren zu lassen.
Ihre Füße tasteten sich zwischen Steinen und Sedimenten voran, Algen glitten um ihre Knöchel. Ab und zu streichelten ihre Zehen einen kleinen glatten Stein, prüften ihn, formulierten Vermutungen, zogen Schlüsse, und ein urzeitliches Gefühl des Fischseins zappelte in ihrer Wirbelsäule. Ein langer dünner Ast, der dicht unter der Wasseroberfläche schwamm, drehte sich plötzlich mit einer schnalzenden Bewegung und glitt weiter. Wasserspritzer sammelten sich auf ihren Brillengläsern, sie hatte es schon aufgegeben, sie zu putzen. Ab und zu beugte sie sich vor, tauchte ihren geschwollenen linken Arm ins Wasser und genoss es, wie der Schmerz nachließ. Hinter ihr stieg Avram ins Wasser, sie hörte ein überraschtes Aufstöhnen vor Schmerz, als das kalte Wasser ihn umschloss. Sie ging weiter und stand bereits mitten im Flussbett. Das Wasser teilte sich vor ihrem Körper, umspülte ihre Hüften. Sanftes Sonnenlicht erwärmte ihr Gesicht, und eine Weite voll blauer und grüner Lichtchen tanzte in ihren Augen und in den Tropfen auf der Brille, es tat ihr gut, so in einer durchsichtigen Blase des Augenblicks zu verweilen.
Ans andere Ufer kletterte sie durch tiefen, zähen Schlamm, der an ihren Füßen klebte und sie mit schmatzenden Lippen einsog, Wolken von Mücken erhoben sich aus den Kuhlen, die ihre Füße hinterließen. Noch ein, zwei Schritte, und sie war auf dem Trockenen, sie sank auf den Boden, lehnte sich mit dem Rucksack an den Felsen und spürte eine neue Leichtigkeit in sich, denn vorher, im Wasser, als die Strömung durch sie hindurchfloss, hatte sie das Gefühl gehabt, der Stein würde von der Öffnung eines Brunnens gewälzt, von dem sie schon gedachte hatte, er sei längst versiegt, und erst dann dachte sie an Avram. Angewurzelt stand er mitten im Flussbett, die Augen halb geschlossenen, das Gesicht angstverzerrt.
Sofort stieg sie wieder hinunter, durch den satten, dunklen Schlamm, trat in die Vertiefungen, die ihre Füße hinterlassen hatten, und streckte Avram ihren Ast entgegen. Er zog den Kopf zwischen seine runden Schultern und weigerte sich, auch nur einen Schritt zu tun. Über das Rauschen des Wassers hinweg rief sie ihm zu, er könne da nicht stehenbleiben, wer weiß, was da drunter war, und dem Klangihres Befehls gehorchte er sofort, tat einen Schritt, griff nach dem Ast und ging dann langsam voran, während sie mit kleinen Schritten rückwärts ging, bis sie sich auf einen großen Stein setzte, die Füße gegen einen anderen stemmte und ihn mit all ihrer Kraft aus der Strömung zog, komm, lachte sie, setz dich zum Trocknen hier hin. Doch er blieb stehen, wie in den Schlamm gepflanzt, verloren, vielleicht einfach vor Kälte erstarrt, und sein Körper durchlebte vor ihren Augen noch einmal die Zeit im Krankenhaus Tel Haschomer mit dem katatonischen Starren und der steinernen Reglosigkeit. Dass er nur nicht wieder da reingerät, dachte sie von Entsetzen gepackt und lief schnell zu ihm hin; denn sie fürchtete, das, was sie ihm antat, würde ihn wieder erschüttern. Doch wie sich zeigte, ging es ihm besser, immerhin war er schon eine halbe Stunde hinter ihr hergegangen, war nicht
Weitere Kostenlose Bücher