Eine Frau flieht vor einer Nachricht
versucht, ihn aus der Wohnung herauszulocken, ihn an Stellen zu bringen, die seine Seele erhellen, ihn mit ihrer Schönheit überfluten würden, doch höchstens einmal im halben Jahr war es ihr gelungen, ihn zu einem belanglosen Treffen in ein Café, das er auswählte, abzuschleppen. Es musste ein Ort seiner Wahl sein, und sie stritt nicht mit ihm, obwohl er immer sehr laute, vulgäre Orte wählte, mit Massenabfertigung – das war auch so ein Wort vom alten Avram –, als gefalle es ihm, sie dort leiden zu sehen, ja, als führe er ihr mit Hilfe dieser Orte zum soundsovielten Male vor Augen, wie weit er von ihr entfernt war und wie weit von sich selbst, von dem Avram, der er früher gewesen war. Doch jetzt, völlig überraschend: sie beide und Fluss und Bäume bei Tageslicht.
Auf seinem Rücken wirkte der Rucksack geschrumpft und kleiner als ihrer, wie ein Kind, das sich an den Rücken seines Vaters klammert. Sie blieb noch einen Moment stehen und betrachtete ihn mit Ofers Rucksack auf dem Rücken. Ihre Augen weiteten sich und leuchteten. Sie spürte, wie die ersten Sonnenstrahlen nach und nach ihre geschundenen Flügel glätteten.
Aus der duftenden, sich erwärmenden Erde, aus den saftigen Fladen der Kühe, die vor ihnen hier entlanggezogen waren, dampfte es. Längliche Pfützen auf dem Weg, Reste des letzten Regens, antworteten dem Morgenhimmel verhalten, Frösche sprangen einer nach dem andern in den Fluss, als sie an ihnen vorbeigingen, so weit das Auge reichte, kein einziger Mensch.
Kurz darauf stießen sie auf einen Stacheldrahtzaun, der den Weg versperrte, Avram wartete dort auf sie und sagte, das war’s dann wohl, was? Ora hörte in seiner Stimme die Erleichterung, dass dieser Ausflug relativ schnell und ohne Verluste beendet war. Für einen Augenblick sank ihr Mut. Was machte dieser Zaun mitten auf dem Weg? Wer hatte ihn da aufgestellt? Und schon versammelten sich ihre Moiren , um ihr Schicksal zu spinnen, sie umtanzten sie spottend und lästerten, hier zeigt sich deine Unbedarftheit in technischen Dingen, deine Schwäche beim Gebrauch von Geräten, dein Analphabetismus bei Bedienungsanleitungen, und während Ora sich routiniert in ihren armseligen Selbstbezichtigungen erging, erkannte sie einen Verschluss in den Drahtmaschen nahe am Boden, und sie holte ihre Brille aus dem Etui, setzte sie auf und ignorierte Avrams erstaunten Blick, sie entdeckte, dass ein Teil des Zauns ein schmales Tor war, und suchte, wo es sich aufmachen ließ, entdeckte einen gewundenen rostigen Draht, den sie zunächst nicht öffnen konnte, doch sie wusste, diesmal würde sie, anders als sonst, das Problem lösen.
Avram stand neben ihr und machte keinen Finger krumm, vielleicht hoffte er, sie werde das Tor nicht aufbekommen, vielleicht hatte ihn auch seine Fähigkeit, zu verstehen, was vorging, bereits verlassen, aber als sie ihn um Hilfe bat, kam er sofort. Nachdem sie ihm erklärt hatte, was ihrer Meinung nach zu tun sei – man müsse mit zwei großen Steinen so lange von beiden Seiten auf den Draht schlagen, bis er immer dünner und irgendwann brechen würde –, und nachdem er den Knoteneingehend betrachtet und begriffen hatte, zog er mit einer einfachen Bewegung eine Schlaufe über den Zaunpfosten, ein breites Stück des Drahtzauns sank vor ihnen zu Boden, und sie gingen durch.
Wir müssen hinter uns zumachen, sagte sie, und er nickte. Würdest du bitte zumachen? Er ging hin und schloss das Tor, und sie machte sich eine innere Notiz, dass man ihn immer aktivieren, ihn anwerfen müsse; als habe er auf seinen eigenen Willen verzichtet und den weiteren Verlauf der Dinge in ihre Hand gegeben. Na wunderbar, dachte sie in der Stimme ihrer Mutter, da führt der Blinde den Lahmen durch die Welt. Als sie ein Stück gegangen waren, kam ihr noch etwas in den Sinn, und sie fragte ihn, ob er wisse, wozu dieser Zaun überhaupt da sei, er schüttelte den Kopf, und sie erklärte ihm die Sache mit den Kühen und den Weidegebieten, und da sie nur wenig darüber wusste, redete sie viel, sie konnte nicht ahnen, auf was für einen Boden ihre Worte bei ihm fielen, warum er ihr so ernst und konzentriert zuhörte, und hörte er ihr überhaupt zu, oder verschluckte er sich am Klang ihrer Stimme?
Doch ein paar Minuten nachdem sie den Zaun hinter sich geschlossen hatten, spürte sie, dass er unruhig wurde und sich immer wieder umschaute, das Schreien der Krähen schreckte ihn auf, und als sie einen Moment nicht auf ihn geachtet hatte, merkte sie,
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