Eine Frau flieht vor einer Nachricht
hören wollte. Diese Art, sich abzureagieren, musste sie ihm heute lassen. Avram lag hinten wie ein Stein und schnarchte mit offenem Mund. Ora schloss die Augen und zwang sich zu Mäßigung und Toleranz, sie versuchte mit aller Kraft, sich schwebendeKreise in sanften Farben vorzustellen, aus denen aber im nächsten Moment ganze Kolonnen dunkler bewaffneter Männer ausschlüpften und mit funkelnden Augen und einer blutrünstigen Melodie auf den Lippen, die in ihrem ganzen Körper pochte, auf sie zumarschierten. Wie kann es sein, dass er nicht versteht, was ich durchmache, dachte sie, wie ist er in der Lage, sich nicht mal einen Moment zu überlegen, wie es mir jetzt geht, wo Ofer dort ist. Sie saß unbewegt da, feuerte sich zu den Klängen der provokativen Melodie an und schaute noch einmal auf diesen ganzen Tag zurück, und plötzlich konnte sie nicht mehr begreifen, wie es hatte geschehen können, dass sie sich seit dem Nachmittag mit diesem nervenden und empörenden Mann dermaßen verstrickt hatte; er hing wie ein Gewicht an ihrem Hals, hatte sie mit unglaublicher Frechheit auch noch in seine persönlichen Probleme mit Jasdi und seinen illegalen Arbeitern hineingezogen und weckte in ihr seitdem Bedrückung und Schuldgefühle, während sie doch nichts anderes als ihren wirklich bescheidenen Plan hatte verwirklichen und zu diesem Zweck auf eine saubere und faire Art und Weise seine Dienste in Anspruch nehmen wollen, doch letztlich hatte er sich ihres Tagesablaufs bemächtigt und alles verdorben!
Mach bitte das Radio aus, sagte sie beherrscht.
Er reagierte nicht. Sie konnte es nicht glauben. Er ignorierte sogar ihre ausdrückliche Bitte. Die Männer tobten in rhythmischem Geschrei und kehligem Schnaufen, und ihre Halsschlagader begann schmerzhaft zu pochen.
Ich hab dich gebeten, den Kasten abzustellen.
Er fuhr mit versteinertem Gesicht weiter. Seine dicken Arme waren bis zum Steuer durchgestreckt, nur in seinem Mundwinkel bebte ein kleiner Muskel. Sie presste fest die Augen zusammen, versuchte, sich zu beruhigen, ihr Handeln zu steuern …
Sie wusste, denn auch jetzt noch erinnerte sie sich in einem Winkel ihres Gehirns, wenn sie nur ganz aufrichtig mit ihm reden, wenn sie ihn nur mit einem Wort, mit einem Lächeln an sie beide erinnern würde, an die kleine persönliche Kultur, die sie sich im Laufe der Jahre mitten in dem Geschrei und Getrommel geschaffen hatten, dann …
Mach das aus! schrie sie mit aller Kraft und schlug sich mit beiden Händen auf die Oberschenkel.
Er fuhr erschreckt hoch, schluckte und schaltete das Radio nicht aus. Seine Finger zitterten, sie sah es und gab einen Augenblick schon fast nach, seine Schwäche schockierte sie, weckte Mitleid und ein undeutliches Schuldgefühl. Sie spürte, sie ahnte, dass seine natürliche orientalische Weichheit dieser Spannung nicht standhalten und schließlich ihrer westlichen Entschiedenheit und der – ebenfalls westlichen – Brutalität, die plötzlich in ihr erwachte, weichen würde. Außerdem war da immer seine Angst vor Ilan, seine Abhängigkeit von ihm. Ora leckte sich die glühenden Lippen. Ihre Kehle pulsierte und brannte trocken, und der Gedanke, dass sie ihn zum Schluss besiegen, dass sie ihm ihren Willen aufzwingen werde, war für sie nicht weniger schwer zu ertragen als der Wunsch, ihn in die Knie zu zwingen. Könnte sie doch bloß hier anhalten, in diesem Augenblick, und alles, was heute passiert war, rückwirkend löschen. Du wirst einfach verrückt, dachte sie, was hat er dir getan, dass du ihn so quälst, was hat er dir getan, sag schon, was, außer dass er existiert.
Das stimmt alles, ereiferte sich die Ora auf der Gegenseite, aber es machte sie verrückt zu sehen, dass er ihr noch nichtmal ein Haarbreit nachgeben konnte, auch nicht aus einer allgemeinen menschlichen Höflichkeit heraus! Das kennen die in ihrer Kultur eben nicht, dachte sie, wurde von einer weiteren Welle mitgerissen, die mit ihrem Scheißehrgefühl, mit ihrem dauernden Beleidigtsein, ihrer Rache und ihren endlosen Abrechnungen, wo sie jedes kleine Fitzelchen draufsetzen, das ihnen irgendwer mal vor Urzeiten gesagt hat, und die ganze Welt schuldet immer bloß ihnen etwas, und an allem sind immer die anderen schuld …
Die Musik wurde ständig lauter, die brausenden Wellen schlugen ihr schon bis zum Hals, und im Innern stampften die Stimmen der Männer. Etwas brach auf in Ora, all ihre Nöte und Schmerzen, und vielleicht auch die Kränkung darüber, dass ihre
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