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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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Freundschaft sie dermaßen enttäuschte und ihnen nun in den eigenen Händen hochging wie eine Granate. Sie wurde mit einem Schlag rot, ein brennender Schleier wickelte sich um ihren Hals, und sie spürte, sie könnte ihn umbringen. Ihre Hand machte sich selbständig, schlug auf den Radioknopf, und das Radio verstummte.
    Aufgeplustert und bebend schauten sie sich flüchtig von der Seite an.
    Sami, seufzte Ora, siehst du, was aus uns geworden ist.
    Sie fuhren schweigend weiter. Erschrocken über sich selbst. Links von ihnen lag Rosch Pina in tiefem Schlaf, danach kamen Chazor HaGelilit, Ajelet HaSchachar, das Naturschutzgebiet im Hulatal, Jessod HaMaala, Kirijat Schmona, das auf der ganzen Strecke mit gelben Ampeln blinzelte, danach fuhren sie auf die 99 über HaGoschrim, Dafna und Sche’ar Jaschuv. Ab und zu, wenn sie auf eine Kreuzung zufuhren, wurde er etwas langsamer und wandte ihr fragend nur die Wange zu: Bis wohin willst du denn noch? Und sie reckte zur Antwort das Kinn, weiter, noch weiter, bis dahin, wo das Land zu Ende ist.
    Irgendwo, schon hinter dem Kibbuz Dan, hörten sie von hinten ein Stöhnen. Avram wachte ächzend auf. Ora drehte sich zu ihm um. Er lag auf dem Sitz. Er schlug die Augen auf und schaute sie mit dem Blick eines Findelkinds und einem gutherzigen, völlig absurden Lächeln an. Ich muss pinkeln, sagte er langsam mit einer eingedickten Stimme. Ah, sagte sie, wir halten gleich an. Ich muss aber jetzt, sagte er. Halt an, rief sie erschreckt zu Sami, halt an, sobald du kannst. Er bremste und fuhr auf den Seitenstreifen. Sie saß da und starrte nach vorn. Sami schaute sie an. Sie bewegte sich nicht. Ora? fragte Avram flehend von hinter, und sie schrak bei dem Gedanken auf, er könne im nächsten Moment draußen am Auto stehen und sich an sie lehnen. So, wie er schaute, würde sie ihm auch noch die Hose aufmachen und ihn ihm halten müssen.
    Sie schaute zu Sami, bittend, verzweifelt, mit einem Ausdruck der Selbsterniedrigung, und traf seinen Blick. Für einen langen bitteren Moment war sie in ihm gefangen und irrte dann sofort durch ein unendliches Labyrinth, von Josef Trumpeldor, dem Massaker an den Juden von Hebron, vom großen arabischen Aufstand bis zu Avrams Schwanz. Sie stieg aus dem Auto und ging zur hinteren Tür. Avram stöhnte und setzte sich mühsam auf. Das ist diese Tablette, entschuldigte er sich.
    Gib mir die Hand, sagte sie, stemmte ihre Fersen in die Erde und bereitete ihren Rücken auf die nächste Strapaze vor.
    Ihre Hand blieb ausgestreckt in der Luft hängen. Er nickte mit geschlossenen Augen, verzerrte kurz das Gesicht, lächelte dann erleichtert, und sie sah, wie ein dunkler Flecken auf seiner Hose und auf den neuen getigerten Polsterbezügen langsam immer größer wurde.
    Ein paar Minuten später hatten sie sich beide draußen wiedergefunden, nicht weit von ihnen auch die Rucksäcke, und Sami war wie ein Wilder davongerast, hatte geschrien und sein bitteres Leid in den Nebel der Nacht gebrüllt. Er fuhr wahnsinnige Schlangenlinien auf dem Mittelstreifen, verfluchte Juden und Araber, alle beide, vor allem aber sich selbst und sein Schicksal, schlug sich auf den Kopf und auf die Brust und hämmerte auf das Steuer des Mercedes.

    Sie aßen getrocknete Pflaumen, Ora steckte die Kerne in den Flussschlamm und hoffte, hier würden eines Tages, sagen wir, zwei Bäume mit ineinander verschlungenen Stämmen wachsen. Danach verließen sie den angenehmen Platz, schnallten sich die Rucksäcke auf, seiner war blau, ihrer orange, und alles, was Avram tat, brauchte unendlich lange, sie hatte den Eindruck, dass jede Bewegung bei ihm durch alle Gelenke seines Körpers ging. Doch als er schließlich aufrecht dastand und auf den Fluss schaute, lief ein frühlingshafter Schein über seine Stirn, als habe ihm eine in die Luft geworfene Münze aus der Ferne den Glanz ihres Goldes zugeblitzt, und für einen Moment amüsierte sie der Gedanke: Was, wenn Ofer jetzt bei uns wäre? Dieser Gedanke war so abwegig – sie hatte ihm über die Jahre nur winzige Informationsbröckchen über Ofer zustecken können, und überhaupt hatte er ihr die ganze Zeit verboten, von Ofer zu erzählen oder auch nur seinen Namen zu erwähnen –, doch nun sah sie die beiden für einen Moment hier, Ofer mit Avram, wie sie einer dem andern über den Fluss halfen, und ihre Augen leuchteten zu ihm hinüber.
    Komm, lass uns gehn.
    Hundert Schritte weiter, mehr waren es nicht, jenseits eines kleinen Hügels, führte der Weg

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