Eine Frau flieht vor einer Nachricht
er. Erklär mir, was ist plötzlich in euch gefahren? Ihr habt die ganzen Jahre durchgehalten, und plötzlich hat es euch gereicht?
Er schimpft mich aus, staunte Ora, ausgerechnet er kommt mir noch mit Vorwürfen.
Von wem ging das aus? Avram hob den Kopf, plötzlich mutig, das war Ilan, nicht wahr? Hat er eine andere?
Ora blieb fast die Luft weg: Beruhige dich, das haben wir beide zusammen beschlossen. Vielleicht ist es besser so, sagte sie so leise, dass er es kaum hören konnte. Aber plötzlich kochte sie über: Was drängst du dich auf einmal in unser Leben, was weißt du überhaupt von uns? Wo bist du drei Jahre lang gewesen? Wo bist du dreißig Jahre lang gewesen?
Entschuldige, sagte er erschrocken und duckte sich, ich … Wo ich gewesen bin? Seine Stirn legte sich in Falten, als wisse er es wirklich nicht.
So siehts aus, sagte Ora, glättete sofort ihre Stimme, bereute ihren Ausbruch.
Und du, Ora?
Was ist mit mir?
Bist du allein?
Ich … Ich bin ohne ihn, ja. Aber ich bin nicht allein. Sie achtete darauf, ihm direkt in die Augen zu schauen: Ich fühl mich nicht allein. Aus dem Lächeln, das sie versuchte, wurde nichts. Avram rang nervös die Hände. Sie spürte, dass sein Körper zu alarmiert war, um dieser Nachricht standzuhalten. Ora und Ilan hatten sich getrennt. Ilan war allein. Ora war allein. Ora war ohne Ilan.
Aber warum? Warum denn?! Er flammte wieder auf, schrie es ihr ins Gesicht. Es fehlte nur noch, dass er mit dem Fuß aufstampfte.
Du schreist. Schrei mich nicht an.
Aber wie … Ihr wart doch immer … Er ließ den Rucksack von der Schulter rutschen und sah mit einem elenden Hundeblick zu ihr hoch: Nein, erklär es mir von Anfang an, was ist passiert?
Was passiert ist? Auch sie stellte den Rucksack ab. Viele Sachen sind passiert, seit Ofer eingezogen wurde. Seit du beschlossen hast, was weiß ich, warum, dass du vor mir verschwinden musst.
Seine Hände zerdrückten sich fast. Seine Augen rasten hin und her.
Unser Leben hat sich verändert, sagte Ora sanft. Ich habe mich verändert. Und Ilan sich auch. Überhaupt, die ganze Familie. Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll zu erzählen.
Und wo ist er jetzt?
Unterwegs, nach Südamerika, hat sich Urlaub vom Büro und von allem genommen. Keine Ahnung, für wie lange. In letzter Zeit sindwir nicht wirklich in Kontakt. Sie zögerte. Sie hatte nicht erzählt, dass Adam mit ihm gefahren war, dass sie im Grunde auch von ihrem erstgeborenen Sohn getrennt war. Von ihm, von Adam, vielleicht sogar richtig geschieden. Lass mir ein bisschen Zeit, Avram, sagte sie, mein Leben ist jetzt sehr durcheinander, es fällt mir nicht leicht, darüber zu reden.
Schon gut, wir müssen nicht reden.
Er stand erschrocken und ganz und gar aufgewühlt da, wie ein Ameisenhaufen, in den ein grober Fuß hineingetreten hat. Früher, dachte sie, hatten solche Komplikationen der Handlung, plötzliche unvorhergesehene Konstellationen ihn gepackt, seinen Körper und seine Seele erregt, ihn »auferleben« lassen, das war auch so ein Wort von ihm, oj, seufzte sie im Stillen zu ihm hinüber, all das »Unendlichstmöglichste«, erinnerst du dich? Erinnerst du dich? Das hast du erfunden, das hast du uns zum Gesetz gegeben, und dass gerade zum Trotz der Tiger neben dem Böcklein liegen soll und schauen, was passiert, vielleicht würde es in der Geschichte des Universums ja einmal auch eine Überraschung geben. Vielleicht würden dieser spezielle Tiger und ebendieses Böcklein es ja zusammen schaffen, zum Trotz, dieses eine Mal – sie erinnerte sich nicht mehr, welchen Ausdruck er damals verwendet hatte. Über sich hinauswachsen? Erlöst werden? Ach, Avrams Wörter. Er hatte ein ganzes Lexikon voll gehabt, Lexikon, Sprichwörtersammlung und Konversationsfloskeln, mit sechzehn, mit neunzehn und mit zweiundzwanzig Jahren, und seitdem Stille, zappenduster.
Sie gingen weiter. Langsam, nebeneinander, gebeugt unter ihrer Last. Ora spürte, wie er die Neuigkeit in sich aufnahm, gleich einem Gewebe, das eine Lösung aufsaugt und dabei seine Eigenschaften verändert: Wie sich in ihm langsam die Einsicht formulierte, dass er in fünfunddreißig Jahren das erste Mal mit ihr allein war, wirklich allein, ohne Ilan, und sogar ohne Ilans Schatten.
Aber war es denn wirklich so, stichelte sie gegen sich selbst, sie konnte sich nicht entscheiden. Schon seit Monaten fiel es ihr schwer, irgendetwas zu entscheiden: Einen Moment dachte sie so, im nächsten anders. Und die Kinder? stieß Avram
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