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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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sie wieder hinab in den Fluss.
    Avram stand da, als hätte er kapituliert: Diese Möglichkeit ging über seine Kraft. Auch über meine, dachte Ora, setzte sich wütend auf die Erde, zog sich Schuhe und Socken aus, band die Schuhe fest, rollte die Hosen hoch und stieg wild entschlossen ins eisige Wasser der Schneeschmelze. Einen spitzen Schrei wegen der Kälte konnte sie nicht unterdrücken. Avram stand noch wie angewurzelt am Ufer, er war verwirrt, was ihn von hier weiterzog und was ihn hielt, denn trotz der Verzweiflung war schließlich das Ufer, auf welches Ora jetzt zuwatete,doch das, auf dem sie ihren Weg begonnen hatten, dort, so schien es ihm, gab es zumindest eine gewisse Stabilität, vielleicht weil es die Seite des Zuhauses war. Und er setzte sich hin, zog die Socken aus, rollte sie auf, band die Schuhe an den Rucksack und schaute dabei fast gar nicht auf Ofers Schuhe, die ebenfalls dort angebunden waren, und er stieg ins kalte Wasser, den Mund verschlossen, und durchschritt es diesmal mit wütenden und mutigen Bewegungen, er schlug große Wellen um sich herum, trat ans Ufer und setzte sich neben Ora, trocknete sich die Füße ab, indem er mit den Händen auf sie klatschte, zog Socken und Schuhe wieder an, und Ora hatte den Eindruck, er sei erleichtert, nicht nur, weil er sich wieder auf dem vertrauteren der beiden Ufer befand, sondern auch, weil er gesehen hatte, dass man den Fluss überqueren und wieder zurückkehren konnte, und genau das taten sie immer wieder – drei- oder viermal, sie zählten es schon nicht mehr –, am ersten Morgen ihrer Wanderung, die sie noch Ausflug nannten, wenn sie ihr überhaupt einen Namen gaben, wenn sie an diesem Tag überhaupt mehr als das Nötigste miteinander sprachen, komm, gib mir die Hand, pass hier auf, verflucht, diese Kühe. Und der Weg und der Fluss schlangen sich ineinander und vereinigten sich, und beim dritten Mal zogen sie die Schuhe schon nicht mehr aus, sie wateten einfach durch Wasser und Schlamm und gingen mit den nassen Schuhen an Land, und dann schmatzten die Schuhe so lange, bis das ganze Wasser wieder draußen war. Schließlich trennte sich der Weg vom Fluss, führte nun gemächlicher auf festem Boden weiter, ein normaler Weg durch Felder, mit länglichen Pfützen, von bleichen Zyklamen gesäumt. Avram schaute sich schon nicht mehr jeden Moment um, fragte auch nicht mehr, ob Ora den Rückweg finden würde, er hatte wohl verstanden, dass sie gar nicht vorhatte, irgendwohin zurückzukehren, und auch, dass er ihr ausgeliefert war. Er lief in sich gekehrt vor ihr her und reduzierte ergeben seine Lebensfunktionen – auf das Maß einer Pflanze, einer Flechte oder Spore. So tut es ihm wohl weniger weh, nahm Ora an. Was quäle ich ihn, fragte sie sich immer wieder, wenn sie ihn so schlaff und kraftlos wandern sah, als arbeite er eine Strafe ab, die ihm überhaupt nicht einsichtig war. Er ist schon kein Teil mehr von mir und von meinem Leben, dachte sie, im Grunde schon seit Jahren nicht mehr, und das versetzte ihr noch nichteinmal einen Stich, ließ sie nur staunen, wie ist es möglich, dass es mir keinen Sich versetzt, wenn der, von dem ich mal dachte, er sei Fleisch von meinem Fleisch, er sei der Urgrund meiner Seele, so getrennt von mir ist. Und was mach ich jetzt mit ihm, was für eine Wahnsinnsidee, mir ausgerechnet da, wo ich alle Kraft dazu brauche, ein Kind zu retten – noch ein anderes Kind aufzuladen.
    Ofer, murmelte sie. Ich vergesse, an ihn zu denken.
    Plötzlich drehte Avram sich um und kam ihr in seinem gebrechlichen Gang entgegen: Jetzt erklär mir, was du eigentlich willst. Ich hab keine Kraft für diese Spielchen.
    Das hab ich dir doch gesagt.
    Ich versteh es nicht.
    Ich fliehe.
    Wovor?
    Sie schaute ihm in die Augen und sagte nichts.
    Er schluckte. Und wo ist Ilan?
    Ilan und ich haben uns vor einem Jahr getrennt, genau gesagt vor neun Monaten.
    Er wankte ein bisschen, als hätte sie ihn geschlagen.
    So ist es, sagte sie.
    Ihr habt euch getrennt? Von wem?
    Wieso von wem? Von uns. Einer vom andern.
    Warum?
    Menschen trennen sich. Das kommt vor. Lass uns weitergehen.
    Er stand da, hob schwerfällig die Hand, ein begriffsstutziger Schüler. Unter seinen Bartstoppeln sah sie seinen gequälten Gesichtsausdruck. Früher hatten Ilan und sie sich manchmal lustig gemacht und gesagt, wenn sie sich je trennen würden, müssten sie um seinetwillen so tun, als wären sie weiterhin ein Paar.
    Weswegen hättet ihr euch denn bitte trennen können, knurrte

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