Eine Frau für Caracas
nachzudenken. Im Gefängnis hatte ich Zeit zum Nachdenken. Reichlich Zeit. Soviel Zeit, um zu der Einsicht zu gelangen, daß ich als Schauspieler nicht einmal Mittelmaß besitze.«
Er deutete mit der Hand auf ein paar Manuskripte, die auf dem häßlichen Nachttisch lagen.
»Vielleicht werde ich ein guter Lektor. Oder ein erstklassiger Autoverkäufer. Oder irgend etwas anderes, wozu sich einem Mann von vierzig Jahren noch eine Chance bietet. Ich meine, es ist ein Alter, in dem man ruhig noch einmal von vorn anfangen kann.«
Werner zog die Zigaretten aus der Tasche, klopfte eine aus der Packung, bot sie Severin an, holte die nächste mit den Lippen für sich selber heraus und ließ sich von Severin Feuer geben.
»Sprechen Sie eigentlich eine fremde Sprache?« fragte er.
»Das gehört fast zu meinem früheren Beruf«, antwortete Severin, »ich habe eine Unmenge englischer und französischer Filme synchronisiert. Ich spreche Englisch und Französisch ziemlich fließend. Dazu kommt genug Italienisch und Spanisch, um mich in diesen Sprachen wenigstens unterhalten zu können. Natürlich nicht über höhere Mathematik oder über biologische Probleme...«
Werner sog an seiner Zigarette und suchte nach einem Aschenbecher.
»Sie sagten vorher, ich hätte Ihnen einen Dienst erwiesen, Herr Severin. Ich kann das gleiche von Ihnen behaupten. Und mir wird bei dem Gedanken sterbensübel, ich wäre Ihnen nicht begegnet und hätte diese Frau geheiratet. Es wäre in den nächsten Tagen geschehen. Und drüben hätte sich alles wiederholt, was Sie erlebt haben...«
»Denken Sie darüber lieber nicht nach!« warnte Severin.
»Hätten Sie Lust, mit mir nach Venezuela mitzukommen?« fragte Werner. »Ich kann einen Mann mit Ihren Sprachkenntnissen gut gebrauchen. Und wenn Sie kein Verlangen darnach haben sollten, meine Korrespondenz zu erledigen oder Abrechnungen zu prüfen — nun, das Land ist jung und bietet jedem Mann, der etwas tun will, gute Möglichkeiten. Allerdings nicht gerade auf literarischem Gebiet...«, fügte er mit einem Blick auf den Manuskriptstapel auf dem Nachttisch hinzu.
»Mein Gott!« murmelte Severin und schloß die Augen, »meinen Sie das im Ernst, oder ist es nur eine Augenblickslaune von Ihnen?«
»Natürlich meine ich es im Ernst — auch wenn mir der Gedanke erst in diesem Augenblick gekommen ist. Wie steht es? Haben Sie Lust, mit mir mitzukommen? Ich will Sie natürlich nicht drängen. Sie haben vier oder sogar sechs Wochen lang Zeit, sich die Sache durch den Kopf gehen zu lassen. Und selbstverständlich bekommen Sie die Schiffskarte für die Rückfahrt, wenn es Ihnen drüben nicht gefällt.«
Severin hob die Arme und verschränkte die Hände hinter dem Kopf; es sah aus, als hätte er jahrelang unter Luftmangel gelitten und als spüre er plötzlich, daß er wieder frei durchatmen könne.
»Ich brauche mir die Antwort nicht zu überlegen, Herr Gisevius! Sie stand schon fest, als Sie Ihre Frage noch nicht ganz ausgesprochen hatten. Wenn Sie mir diese Chance geben wollen — ich nehme sie an. Mein Gott, und ob ich sie annehme! Und ich weiß schon jetzt, daß Sie sich wegen der Rückfahrkarte nicht in Unkosten zu stürzen brauchen.«
Werner erhob sich und gab Severin die Hand: »Ich melde mich wieder bei Ihnen... «
Severin begleitete ihn bis zur Tür.
Werner zögerte noch einen Augenblick.
»Wenn Sie in Schwierigkeiten sein sollten...«
»Sie sind sehr freundlich«, sagte Severin rasch, um ihm über die Verlegenheit hinwegzuhelfen, »aber ich kann mich noch ein paar Wochen über Wasser halten. Haben Sie vielen Dank! Für alles!«
Werner verbrachte die Nacht im Hotel. Es war keine gute Nacht. Es war eine Nacht voll spukhafter Träume, in denen er von dämonischen Wesen verfolgt und bedroht wurde, hinter deren fratzenhaften Masken er Anita Eyssings lodernde Augen zu erkennen glaubte. Aber immer, wenn er sich nur noch mit einem verzweifelten Sprung in dunkle Abgründe zu retten vermochte, war es Severin, der sich dunkel und ernst wie ein Cherub in schwarzer Rüstung vor die höllischen Schemen stellte und ihn über die Abgründe hinwegtrug . Es war ein Traum, der sich ein dutzendmal ohne die geringsten Variationen wiederholte.
Am Vormittag des nächsten Tages hatte er in der Technischen Hochschule mit Professor Merten, seinem ehemaligen Lehrer, eine zweistündige Besprechung. Werner hatte dazu Aufnahmen von seinen und von den Bauten anderer Architekten in Caracas und Maracaibo mitgenommen, die
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