Eine Frau in Berlin
hohläugig, grünbleich, übernächtigt. Alle flüstern, wir atmen gepreßt, trinken gierig den heißen Malzkaffee (gekocht auf einem Herdfeuer aus Naziliteratur, wie der Buchhändler uns verrät).
Immer wieder starren wir die verriegelte, verrammelte Hintertür an, hoffend, daß sie halten möge. Hungrig stopfe ich das fremde Brot. Da – Schritte auf der Hintertreppe, und die fremden Laute, die uns so grob und tierisch in den Ohren tönen. Erstarrung und Schweigen rings um den Tisch. Wir halten im Kauen inne, der Atem stockt uns allen. Hände krampfen sich gegen die Brust. Augen flackern irr. Wieder Stille draußen, die Schritte verhallen. Jemand flüstert: »Wenn das so weitergehen soll...«
Keine Antwort. Das Flüchtlingsmädel aus Königsberg, das auch hier unterkam, wirft sich schreiend über den Tisch: »Ich kann nicht mehr! Ich mache Schluß!« Sie hat es in der Nacht mehrfach aushalten müssen, unterm Dach, wohin sie vor einem ganzen Haufen Verfolger geflohen war. Das Haar hängt ihr wirr ums Gesicht, sie mag nicht essen noch trinken.
Wir sitzen, warten, horchen. Über uns orgelt nun Artillerie. Schüsse peitschen durch unsere Straße. Es ist gegen 7 Uhr, als ich mit der Witwe abwärts zu unserer Wohnung schleiche, vorsichtig ums Treppengeländer sichernd. Horchend verhalten wir vor der eigenen Tür, die ich angelehnt ließ, als sie sich plötzlich von innen auftut.
Eine Uniform. Schreck. Die Witwe umkrallt meinen Arm. Aufatmen – es ist bloß Petka.
Sprachlos lauscht die Witwe unserem Gespräch. Aber nach einer Minute stehe auch ich sprachlos da. Denn Petka strahlt mich an, seine kleinen Blauaugen glitzern, er schüttelt mir die Hände, versichert, daß ihm die Zeit nach mir lang geworden sei, daß er gleich nach der Wache schnellstens zurückgekehrt sei und die ganze Wohnung nach mir abgesucht habe, daß er froh sei, so froh, mich wiederzusehen. Und er drückt und quetscht dabei meine Finger mit seinen Holzfällerpratzen, daß ich sie ihm entziehen muß. Ich stehe wie ein Idiot vor diesen unzweifelhaften Symptomen, höre mir das Romeogestammel an, bis Petka endlich, endlich entschwindet – mit dem Versprechen, bald wiederzukommen, sehr bald, so schnell er eben kann.
Ich stehe offenen Mundes da. Die Witwe hat kein Wort verstanden, hat aber aus Petkas Gesicht gelesen, was mit ihm los ist. Sie schüttelt den Kopf: »Na, weißt du – .« Wir sind beide ganz fassungslos.
Und nun sitze ich hier am Küchentisch, hab soeben den Füllhalter neu mit Tinte gefüllt und schreibe, schreibe, schreibe mir allen Wirrsinn aus dem Kopf und Herz. Was mag das werden? Was kommt da noch über uns? Mir ist so klebrig, ich mag gar nichts mehr anfassen, mag die eigene Haut nicht anrühren. Jetzt ein Bad oder doch richtige Seife und reichlich Wasser. Schluß, weg mit den Wunschträumen.
Wobei mir die seltsame Vorstellung einfällt, eine Art Wachtraum, der mir heute früh kam, als ich nach Petkas Weggang vergeblich einzuschlafen versuchte. Es war mir, als läge ich flach auf meinem Bett und sähe mich gleichzeitig selber daliegen, während sich aus meinem Leib ein leuchtendweißes Wesen erhob; eine Art Engel, doch ohne Flügel, der steil aufwärts schwebte. Ich spüre noch, während ich dies schreibe, das hochziehende, schwebende Gefühl. Natürlich ein Wunschtraum und Fluchttraum. Mein Ich läßt den Leib, den armen, verdreckten, mißbrauchten, einfach liegen. Es entfernt sich von ihm und entschwebt rein in weiße Fernen. Es soll nicht mein »Ich« sein, dem dies geschieht. Ich schiebe all das aus mir hinaus. Ob ich wohl spinne? Aber mein Kopf faßt sich in diesem Augenblick kühl an, die Hände sind bleiern und ruhig.
Dienstag, 1.Mai 1945, 15 Uhr, rückschauend auf Samstag, Sonntag, Montag
Samstag morgen, am 28. April, schrieb ich zuletzt. Drei Tage vergingen seitdem so, so randvoll der tollen Dinge, der Bilder, Ängste, Gefühle, daß ich nicht mehr weiß, wo anfangen, was sagen. Wir sind im Dreck, tief, tief. Jede Minute Leben wird teuer bezahlt. Über uns geht der Sturm weg. Zitternde Blätter im Wirbel, wir wissen nicht, wohin es uns treibt.
Eine Ewigkeit ist seit Samstag vergangen. Heute ist Dienstag und Erster Mai und immer noch Krieg. Ich hocke im Sessel, im Vorderzimmer. Vor mir im Bett liegt Herr Pauli, Untermieter der Witwe und heimgeschickter Volkssturmmann. Am Samstag nachmittag kreuzte er überraschend auf, einen Klumpen von sechzehn Pfund Butter, in ein Handtuch gewickelt, unterm Arm. Nun ist er krank,
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