Eine Frau in Berlin
deutsch-russische Verbrüderungskuß klatscht auf Paulis Wange. Bald ist Pauli stockbetrunken, er ruft uns hingerissen zu: »Sind doch dolle Kerle, diese Russen, da steckt Saft und Kraft drin!«
Wieder leeren wir eine Gläserrunde auf die internationale Buchhalterei. Selbst die Witwe wird nun munter und vergißt vorübergehend, daß auf ihrer polierten Tischplatte Heringe zersägt werden. (Um die Teller kümmert sich keiner der Burschen.) Ich trinke sehr mit Maßen, tausche heimlich die Gläser aus, will meinen Verstand für nachher zusammenhalten. Wir sind von kranker Lustigkeit, vor allem wir beiden Frauen. Wir wollen vergessen, was vor drei Stunden geschah.
Draußen Dämmerung. Nun singen Jascha und Petka etwas Melancholisches, Grischa brummelt nur so mit. Herr Pauli ist in selig aufgelöster Laune. Es ist ein bißchen viel für ihn, nachdem er heute früh noch Todeskandidat beim Volkssturm war, bis die Mannen sich einsichtsvoll auflösten und sich mangels Waffen und Befehlen gegenseitig heimschickten. Plötzlich rülpst Pauli, fällt vornüber und speit auf den Teppich. Im Nu wird er von der Witwe und dem Mitbuchhalter Grischa ins Bad spediert. Die anderen schütteln den Kopf, äußern Teilnahme... Womit Herr Pauli sich für den Rest des Tages und, wie sich seither herausgestellt hat, auf unabsehbare Zeit ins Bett verkrümelt, in sein Untermieterzimmer nebenan. Eine lahme Ente. Es wird wohl so sein, daß sein Unterbewußtsein die Lähmung will. Seine Seele ist neuralgisch. Trotzdem wirkt er durch sein bloßes maskulines Vorhandensein bremsend. Die Witwe schwört auf ihn und seine kargen Aussprüche zur Weltlage und massiert ihm das Kreuz.
Abenddämmerung, fernes Geheul der Front. Wir zünden die Kerze an, die die Witwe aufgetrieben hat, pappen sie auf eine Untertasse. Dürftiger Lichtkreis über dem runden Tisch. Soldaten kommen und gehen, es wird lebhaft gegen Abend. Es hämmert gegen die Vordertür, es drängt sich hinten in der Küche. Wir sind furchtlos. Solange Petka, Grischa und Jascha bei uns am Tisch sitzen, kann uns nichts passieren.
Plötzlich steht Anatol im Zimmer, erfüllt die Stube mit seiner Mannsgegenwart. Hinter ihm drein trabt ein Soldat mit einem Kochgeschirr voll Schnaps und einem runden, dunklen Brot unterm Arm. Die Männer sind alle in bestem Futterzustand, drall und prall, in sauberen, praktisch-derben Uniformen, mit breiten Bewegungen, sehr selbstbewußt. Sie spucken ins Zimmer, werfen ihre langen Zigarettenmundstücke in die Gegend, wischen die Heringsgräten vom Tisch auf den Teppich hinunter und fläzen sich breit in den Sesseln.
Anatol berichtet, daß die Front nunmehr am Landwehrkanal liegt, und ich muß an den öden, alten Singsang denken: »Es liegt eine Leiche im Landwehrkanal...« Viele Leichen werden nun darin liegen. Anatol behauptet, daß sich in den letzten Tagen 130 deutsche Generäle ergeben hätten. Er kramt aus einer Zellophantasche eine Karte von Berlin heraus, zeigt uns darauf den Frontverlauf. Es ist eine sehr genaue Karte, russisch beschriftet. Eigentümliches Gefühl, als ich nun, Anatols Wunsch willfahrend, ihm zeige, wo sich unser Haus befindet.
Also Samstag, 28. April 1945, Front am Landwehrkanal. Jetzt, wo ich dies aufschreibe, ist Dienstag, 1. Mai. Es orgelt über uns hinweg. Ölig dröhnen die russischen Flugzeugmotoren. Drüben an der Schule stehen in langen Reihen die Stalinorgeln, von den Russen zärtlich »Kartjuscha« genannt und in einem besonderen Soldatenlied besungen. Die Kartjuschas heulen in schrillen Wolfstönen. Sie sehen nach gar nichts aus, gleichen aufrecht stehenden Gittern aus dünnen Rohren. Doch sie heulen, jaulen, kreischen, daß es uns fast die Ohren zerreißt, wenn wir, nicht weit weg davon, nach Wasser anstehen. Dazu speien sie bündelweise Feuerstreifen.
Von den Kartjuschas überheult, stand ich heute morgen in der Wasserschlange. Der Himmel war blutig bewölkt. Das Zentrum raucht und dampft. Die Wassersnot treibt uns aus allen Löchern. Von überall her kommen sie gekrochen, elende, schmutzige Zivilisten, Frauen mit grauen Gesichtern, alte zumeist, denn die jungen versteckt man. Männer mit Stoppelbärten, weiße Fetzen der Kapitulation um den Oberarm gebunden – so stehen sie da und schauen zu, wie die Soldaten Eimer auf Eimer für ihre Pferde vollpumpen. Denn das Militär hat an der Pumpe jederzeit den Vortritt, ganz selbstverständlich. Darob kein Streit, im Gegenteil: Als der Pumpenschwengel einem Zivilisten herausbrach,
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