Eine Frau in Berlin
russischen Offizieren sehr populär. Eine der Schwestern hab ich auf der Treppe gesehen: sehr hübsch, schwarz und weiß, groß und zart. Der Major berichtete achselzuckend und leicht geniert von dem munteren Treiben der beiden Frauen: Man habe ihn heute am hellichten Vormittag in die Wohnung gebeten, wo die Mädchen mit zwei Männern zu Bett gelegen und ihn lachend aufgefordert hätten, sich dazuzulegen – ein Angebot, das den gutbürgerlich denkenden Major noch beim Erzählen schockierte. Ein Anziehungspunkt für die Russen soll auch das sehr niedliche dreijährige Söhnchen der einen Schwester sein – der Major sagt, daß es schon drei Worte Russisch plappert und von den männlichen Besuchern nach Kräften verwöhnt wird.
Weiter, der neue Tag. Es ist so sonderbar, ohne Zeitung, ohne Kalender, ohne Uhrzeit und Ultimo zu leben. Die zeitlose Zeit, die wie Wasser dahinrinnt und deren Uhrzeiger für uns einzig die Männer in den fremden Uniformen sind.
Manchmal erstaunt es mich selbst, mit welcher Ausdauer ich diese zeitlose Zeit fixiere. Es ist mein zweiter Versuch eines schriftlichen Selbstgesprächs. Den ersten unternahm ich als Schulmädel. Wir waren fünfzehn, sechzehn Jahre alt, trugen weinrote Schülermützen und diskutierten endlos über Gott und die Welt. (Manchmal auch über Jungens, aber sehr herablassend.) Als unser Geschichtsprofessor mitten im Schuljahr einen Schlaganfall erlitt, mußte zu seiner Vertretung eine Anfängerin einspringen. Eine stupsnasige Assessorin, die wie eine Explosion in unsere Klasse platzte. Keck widersprach sie unserem patriotischen Geschichtsbuch. Friedrich den Großen nannte sie einen Hasardeur. Dafür lobte sie den sozialdemokratischen Reichspräsidenten Ebert, den unser verflossener Professor gern als »Sattlergesellen« ironisiert hatte. Nach solchen Verwegenheiten blitzte sie uns schwarzäugig an und rief mit beschwörend erhobenen Händen: »Mädels, ändert die Welt, denn sie braucht es!«
Das gefiel uns. Wir mochten die Welt von 1930 auch nicht. Wir lehnten sie höchst energisch ab. Sie war so verworren und für uns junge Menschen so verrammelt. Es gab Millionen Arbeitslose. Täglich bekamen wir zu hören, daß die meisten der von uns erstrebten Berufe aussichtslos seien und daß die Welt keineswegs auf uns warte.
Zufällig fanden damals gerade einmal wieder deutsche Reichstagswahlen statt. Jeder Abend brachte Versammlungen der zehn oder fünfzehn größten Parteien. Wir stiefelten hin, grüppchenweise, angestachelt von unserer Assessorin. Wir arbeiteten uns von den Nationalsozialisten über Zentrum und Demokraten zu den Sozialdemokraten und Kommunisten durch, hoben bei den Nazis die Hand zum Hitlergruß und ließen uns bei den Kommunisten »Genossin« titulieren. Damals startete ich mein erstes Tagebuch, aus dem Wunsch heraus, mir eine Meinung zu bilden. Neun Tage lang, glaube ich, schrieb ich getreulich die Kernsätze der Wahlredner nach – meine jugendlichen Widerworte dazu. Am zehnten Tag gab ich es auf, obwohl mein Schreibheft noch viele weiße Blätter aufwies. Ich fand nicht mehr heraus aus dem Gestrüpp der Politik. Meinen Schulfreundinnen erging es ebenso. Jede Partei, so fanden wir, besaß einen Zipfel des Rechts. Aber jede betrieb und erstrebte auch, was wir Kuhhandel nannten: den Schacher, die Ämterjagd, das Geprügel um die Macht. Keine Partei, so fanden wir, war rein. Keine war unbedingt. Heute meine ich, daß wir wohl eine Partei der Sechzehnjährigen hätten gründen müssen, um unseren moralischen Ansprüchen zu genügen. Was wächst, wird schmutzig.
Der Montag brachte uns über Mittag Besuch. Nicht aus dem Haus und nicht von nebenan, sondern aus einem zwei Fußstunden weit entfernten Stadtteil im Westen, aus Wilmersdorf. Ein Mädchen namens Frieda, der Witwe vom Hörensagen bekannt.
Es hängt eine ganze Geschichte drum herum, die anfängt mit einem Neffen der Witwe, einem jungen Medizinstudenten. Besagter Student hatte eines Nachts in seiner Universität Luftschutzwache. Eine junge Medizinstudentin war gleichzeitig zum Luftschutz eingeteilt. Das Ergebnis dieser gemeinsamen Wache war eine Schwangerschaft und, da des Mädchens Eltern drängten, eine Hals über Kopf geschlossene Ehe – sie neunzehn, er einundzwanzig Jahre alt. Inzwischen hat irgendein General Heldenklau den jungen Mann für die Front geschnappt. Man weiß nicht genau, wo er denn steckt. Seine junge Gattin aber, nun im achten Monat schwanger, ist mit einer Freundin zusammengezogen,
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