Eine Frau in Berlin
geringsten fürchten, abtasten, beobachten, im Auge behalten muß. Sie brachten die Buchhändlers-Saga mit, von der heute unser ganzes Haus widerhallt. Der Buchhändler, ein Bayer, ein kleiner, stämmiger Knorren, hat wirklich und wahrhaftig einen Russen angebrüllt. Dies geschah, als ein Iwan die wasserschleppende Buchhändlerin kurz vor der Wohnungstür abfing. (Den Mann läßt die Frau nicht zur Pumpe, er war in der Partei.) Die Frau kreischte, ihr Mann kam aus der Wohnung gerannt, ging auf den Iwan los und schrie: »Du verfluchter Sauhund! Du Schwanz!« Und die Saga meldet weiter, wie darob der Russe klein wurde, wie er einschrumpfte, wie er kniff. Es geht also doch. Der Bursche hat mit seiner Tier- und Barbarenwitterung gespürt, daß der Ehemann rot sah, daß ihm in der Sekunde alles, aber auch alles gleich war – und hat ihm die Beute gelassen.
Zum ersten Mal hörte ich von solch rotem Zorn eines unserer Männer. Die meisten sind vernünftig, reagieren mit dem Kopf, sind bemüht, ihre Haut zu retten, wobei die Frauen ganz auf ihrer Seite stehen. Kein Mann verliert sein Gesicht, weil er eine Frau, sei es die eigene, sei es eine Nachbarsfrau, den Siegern preisgibt. Im Gegenteil, man würde es ihm verdenken, wenn er die Herren durch Widerstand reizte. Trotzdem bleibt da ein ungelöster Rest. Ich bin überzeugt, daß die Buchhändlerin ihrem Mann diesen Anfall von Mut, von Liebe, wenn man will, nicht vergessen wird. Und die anderen Männer, die diese Geschichte herumerzählen, lassen in ihrem Ton Respekt durchklingen.
Die Männer sind nicht zum Spaß zu uns gekommen. Sie machen sich nützlich, haben Bretter mitgebracht und nageln sie nun, nachdem sie sie am Küchentisch zurechtgesägt haben, quer vor den Rahmen der Hintertür. Es muß schnell gehen. Kein Russe darf dazwischenkommen. Als Lohn spendieren wir den Männern Zigarren aus der wohlgefüllten Kiste, die der Major gestern mitgebracht hat. Ja, wir sind reich.
Als die Bretter schon den ganzen Türrahmen füllen, kreuzt auf der Hintertreppe ein Russe auf. Mit heftigen Tritten versucht er das Werk einzutreten, schafft es aber nicht. Wir atmen auf, sind unendlich erleichtert. Nun werden doch nicht mehr Tag und Nacht fremde Kerle durchbrausen können. Zwar kommen sie ja auch an die Vordertür, aber die hat ein gutes Schloß und ist aus festem Holz. Wer uns kennt, ruft meistens schon draußen beruhigend: »Sdjäs Andrej«, oder wer es sonst ist. Und mit dem Major habe ich ein besonderes Klopfzeichen verabredet.
Etwas Rührendes: Über Mittag kam Fräulein Behn, unsere resolute Leitstute aus dem Keller damals – jetzt haust sie bei der jungen Frau Lehmann, deren Mann im Osten vermißt ist, und hilft ihr bei den beiden Kindern. Weder die junge Frau noch Fräulein Behn sind bisher vergewaltigt worden, obwohl sie beide recht nett aussehen. Ihr Schutz und Schirm: die kleinen Kinder. Schon am ersten Russenabend haben sie gemerkt, was sie an den Kindern haben. Da waren zwei rüde Kerle in die Wohnung eingedrungen, hatten sich mit Gewehrstößen und Geschrei Einlaß verschafft, stießen das öffnende Fräulein Behn vor sich her, zimmerwärts – und stoppten vor dem Gitterbettchen, in dem beim Kerzenschein das Baby und der vierjährige Lutz beisammen schliefen. Einer sagte auf deutsch, ganz baff: »Kleine Kind – ?« Beide starrten eine Zeitlang auf das Bettchen – und verzogen sich dann auf Zehenspitzen wieder aus der Wohnung.
Nun bittet Fräulein Behn, ich möchte doch für ein paar Minuten heraufkommen; man habe Russenbesuch, zwei, ein junger und ein älterer Mann, die schon einmal dagewesen seien und die heute Schokolade für die Kinder mitgebracht hätten. Man möchte sich gern mit ihnen unterhalten, bittet mich, den Dolmetscher zu spielen.
Schließlich sitzen wir einander gegenüber, die zwei Soldaten, Fräulein Behn, Frau Lehmann, an deren Knie sich der vierjährige Lutz festklammert, und ich. Vor uns in seinem Wagen sitzt das Baby. Ich übersetze, was der ältere Russe mich zu übersetzen bittet: »Welch hübsches kleines Mädchen! Eine wahre Schönheit.« Und der Sprecher ringelt sich des Babys Kupferlöckchen um den Zeigefinger. Er bittet mich dann, den beiden Frauen zu übersetzen, daß auch er zwei Kinder habe, zwei Jungen, die bei der Großmutter auf dem Lande leben. Er kramt ein Photo aus seiner zerschlissenen Pappkarton-Brieftasche : zwei Borstenköpfchen auf bräunlich nachgedunkeltem Papier. Seit 1941 hat er sie nicht mehr gesehen. Von Urlaub
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