Eine Frau in Berlin
Papierhülle. Wer letzteres verlor, ahne ich nicht. Ich wußte gar nicht, daß sie überhaupt sowas kennen. Jedenfalls war es ihnen nicht der Mühe wert, deutschen Frauen gegenüber davon Gebrauch zu machen.
Das Grammophon haben sie mitgenommen, auch die Reklameplatte der Textilfirma (»... für die Dame, für das Kind, Jedermann bei uns was findt...«). Dafür blieben uns insgesamt 43 klassische Musikplatten, von Bach bis Pfitzner, und der halbe Lohengrin dabei. Auch der von Anatol zerbrochene Deckel ist zurückgeblieben, dankbar verfeuern wir ihn im Herd.
Nun ist schon Abend, Mittwoch, 9. Mai. Schreibend hocke ich auf der Fensterbank. Draußen Sommer, der Ahorn ist dunkelgrün, die Straße sauber gefegt, leer. Ich nutze den letzten Tagesschein, denn nun heißt es Kerzen sparen. Niemand wird uns neue bringen.
Vorbei ist es nun auch mit Schnaps, Zucker, Butter, Fleisch. Könnten wir nur erst an die Kartoffeln heran! Noch getraut sich keiner, die Barrikade vorm Hauskeller niederzulegen. Man weiß ja nicht, ob sie wiederkommen oder ob neue Truppen nachrücken. Die Witwe predigt und predigt, allerdings nicht von den Lilien auf dem Felde, deren Beispiel allein für uns paßte. Sie spinnt bange Zukunftsgedanken, sieht uns alle verhungern, wechselte einen Blick mit Herrn Pauli, als ich um einen zweiten Teller Erbsensuppe bat.
Flak knattert in mein Geschreibe hinein. Es heißt, sie üben für eine Siegesparade, zu der auch Amerikaner eintreffen sollen. Schon möglich. Sollen sie feiern, uns geht es nichts an. Wir haben kapituliert. Trotzdem spüre ich Lebenslust.
Weiter, dies schreibe ich nachts, bei Kerzenschein, mit einer Kompresse um die Stirn. Gegen acht Uhr abends schlugen Fäuste an unsere Vordertür: »Feuer! Feuer!« Wir – hinaus. Draußen grelle Helle. Flammen züngelten aus dem Ruinenkeller zwei Häuser weiter, leckten schon zur Brandmauer des heilen Nebenhauses empor. Beißender Qualm drang aus einem Loch im Getrümmer, kroch die Straße hinauf. Es wimmelte von Schatten, Zivilisten. Rufe und Geschrei.
Was tun? Wasser gibt es nicht. Der Feuerherd lag unten im Keller der Ruine. Glutheiße Luft, Wind kam auf, es war wie in Bombennächten. Deshalb regte sich auch keiner auf. »Ersticken«, hieß es. »Mit Trümmern das Feuer zudecken.« Im Nu hatten sich zwei Ketten formiert. Gesteinsbrocken wanderten von Hand zu Hand. Der Letzte schleuderte sie in die Flammen. Einer rief, daß wir uns beeilen müßten, es sei gleich neun – und um zehn Uhr abends müssen Zivilisten von der Straße verschwunden sein.
Von irgendwoher rollten Gestalten ein Faß an, wir schöpften mit Eimern eine stinkige Brühe daraus. Beim Weitergeben der Eimer haute mir eine Frau versehentlich die Zinkkante gegen die Schläfe. Ich sah gleich Funken, taumelte zu einem Steinbrocken auf dem Rasen gegenüber, dem Gräber-Rondell, hockte mich nieder. Eine Frau setzte sich zu mir und berichtete eintönig, daß »die da unten« ein Offiziers-Ehepaar seien, mit Cyankali vergiftet. Das wußte ich schon, ließ aber die Frau reden. »Kein Sarg, gar nichts«, sagte sie. »Die sind bloß in Verdunkelungspapier gewickelt, mit der Strippe drum rum. Die hatten ja nicht mal Laken auf den Betten, waren bloß als Verbombte eingewiesen.« Aber das Gift müssen sie doch parat gehabt haben.
Mir war schwindlig, ich spürte förmlich, wie die Beule auf der Stirn wuchs. Das Feuer war bald eingekreist und zugedeckt. Ich gesellte mich zu einer schimpfenden Gruppe und erfuhr die Ursache des Brandes: Ein Feinkosthändler, der früher in diesem zerstörten Haus sein Geschäft führte, hatte im teilweise erhaltenen Keller Reste seines Weinlagers belassen. Die Russen hatten es entdeckt, ich möchte sagen, gerochen, und hatten die Regale, Kerzen in Händen, ausgeräumt. Dabei war versehentlich Flaschenstroh ins Glimmen geraten, woraus sich langsam der Brand entwickelt hatte. Ein Mann berichtet: »Stockblau haben die Kerls den Rinnstein lang gelegen. Ich hab selber gesehen, wie einer, der noch aufrecht in seinen Stiefeln stand, an der Reihe langgegangen ist und seinen Genossen die Uhren vom Arm geknöpft hat.« Darob Gelächter.
Nun liege ich im Bett, schreibe, kühle meine Beule. Für morgen planen wir eine große Reise quer durch Berlin nach Schöneberg.
Donnerstag, 10. Mai 1945
Der Morgen ging hin mit Hausarbeit, Holzzerklopfen, Wasserholen. Die Witwe badete ihre Füße in Sodawasser und probierte Frisuren aus, bei denen sich möglichst viel Grauhaar verstecken
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