Eine Frau in Berlin
klingt so preußisch.
Zwanzig Minuten später standen wir vor dem Haus, in dem die Freunde der Witwe wohnen. »Ein Korpsbruder meines Mannes«, so sagt sie – Studienrat, Altphilologe, verheiratet. Das Haus wirkt völlig tot. Die Vordertür ist mit Latten vernagelt. Als wir einen Hintereingang suchen, stoßen wir auf eine Frau, die ihre Röcke gehoben hat und ungeniert vor unseren Augen in einem Hofwinkel ihre Notdurft verrichtet. Auch etwas, das ich zum ersten Mal so öffentlich in Berlin sah. Endlich fanden wir den Aufgang, klommen zwei Treppen hoch, klopften, riefen als Parole den Namen der Witwe... Drinnen Rumoren, Schritte und Geflüster, bis man begriff, wer draußen steht. Da fliegt die Tür auf, wir umhalsen uns, ich presse mein Gesicht an ein gänzlich fremdes Gesicht; denn ich habe diese Leute nie zuvor gesehen. Es ist die Frau des Studienrats, hinter ihr taucht der Mann auf, streckt uns die Hände entgegen, bittet uns herein. Die Witwe redet wie im Fieber, alles geht ihr durcheinander, auch die andere Frau redet, und keine hört zu. Es dauert eine Weile, bis wir in dem einzig bewohnbaren Raum der schwer durchgeblasenen Wohnung sitzen. Wir kramen die mitgebrachten gebutterten Brotschnitten aus der Tasche, bieten sie an. Da staunen die beiden. Brot hat es hier noch keines gegeben, es ist auch keines von Russen hinterlassen worden. Auf die stereotype Frage »Wie oft haben die...?« erklärt die Dame des Hauses in ostpreußisch breitem Tonfall: »Mich? Bloß einmal, am ersten Tag. Von da ab haben wir uns im Luftschutzkeller eingeriegelt, wir hatten unten einen Waschkessel voll Wasser.« Hier kamen die Sieger später und verschwanden früher, alles ging ruckzuck.
Wovon leben die beiden Leute? »Ach, wir haben noch ein Säckchen Grütze und ein paar Kartoffeln. Ach ja, und unser Pferd!«
Pferd? Gelächter, und die Hausfrau berichtet mit anschaulichen Gesten: Während noch deutsche Truppen in der Straße lagen, kam jemand in den Keller gerannt mit der frohen Botschaft, draußen sei ein Pferd gefallen. Im Nu war das ganze Kellervolk draußen. Das Tier zuckte noch und verdrehte die Augen, da stachen schon die ersten Brotmesser und Taschenmesser in den Leib – selbstverständlich bei Beschuß. Ein jeder schnitt und wühlte, wo er gerade angefangen hatte. Als die Studienratsfrau hinübergriff, wo gelblich das Fett schimmerte, kriegte sie einen Hieb mit dem Messergriff auf die Finger: »Sie! Bleiben Sie, wo Sie sind!« Ein sechs Pfund schweres Stück konnte die Hausfrau heraussäbeln. »Mit dem Rest haben wir meinen Geburtstag gefeiert«, so sagte sie. »Hat tadellos geschmeckt, ich hatte es in meinem letzten Essig eingelegt.«
Wir gratulierten heftig. Eine Flasche Bordeaux kam zum Vorschein. Wir tranken, ließen die Hausfrau leben, die Witwe gab den Vergleich mit der Ukrainerfrau zum besten – wir haben alle kein Maß mehr.
Wieder und wieder nahmen wir Abschied. Der Studienrat wühlte im Zimmer herum, suchte nach irgendwas, das er uns schenken, uns für die Brotschnitten geben könnte, fand aber nichts.
Weiter, ins Bayerische Viertel hinein, wir wollen noch nach meiner Freundin Gisela schauen. Unendliche Reihen von deutschen Personenautos blockieren die Straße, ausgeweidet fast alle. Drüben hat ein Friseur wieder aufgemacht; ein Zettel vermeldet, daß er Männerhaare schneidet und auch Frauenköpfe wäscht, wenn man ihm warmes Wasser mitbringt. Tatsächlich erspähten wir hinten im Halbdunkel einen Kunden und einen, der mit einer Schere in Händen drum herum sprang. Das erste Lebenszeichen im Stadtkadaver.
Treppauf zu Gisela. Ich klopfte und rief, mir war ganz zittrig vor Aufregung. Wieder Gesicht an Gesicht; und dabei haben wir uns früher höchstens die Hand gedrückt.
Gisela war nicht allein. Sie hat zwei junge Mädchen bei sich aufgenommen, die irgendein Bekannter ihr geschickt hat. Zwei geflüchtete Studentinnen aus Breslau. Stumm saßen sie in einem fast leeren, scheibenlosen, doch sauberen Zimmer.
Nach den ersten aufgeregten Worten und Wechselreden trat Stille ein. Ich spürte: hier herrscht Leid. Die Augen der beiden jungen Mädchen waren schwarz umrändert. Was sie sagten, klang so hoffnungslos, so bitter. Beide sind, wie Gisela mir auf dem Balkon zuflüsterte, auf den sie mich hinauslotste, von den Russen entjungfert worden und haben es viele Male aushalten müssen. Die blonde Hertha, eben zwanzig, hat seitdem ständig Schmerzen und weiß sich nicht zu helfen. Sie weint viel, sagt Gisela. Von
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