Eine Frau in Berlin
Belagerung ein paar ordentliche Wasserzapfstellen vorzubereiten. Die haben doch selber Städte belagert, müßten es also wissen. Aber vermutlich wäre jeder führende Mann, der von Pumpenbau gesprochen hätte, als Defaitist und Lumpenhund abgetan worden.
Stiller Abend heute. Zum ersten Mal seit drei Wochen habe ich ein Buch aufgeschlagen, Joseph Conrad: Schattenlinie. Ich fand aber nur schwer hinein, bin selber zu voll von Bildern.
Sonntag, 13. Mai 1945
Strahlender Sommertag. – Von früh an optimistische Geräusche: Klopfen, Schrubben, Gehämmer. Dabei schwebt über uns die Angst, daß wir unser Haus, unsere Wohnungen für Militär räumen müssen. An der Pumpe ging das Gerücht, daß Truppen in den Block gelegt werden sollten. Nichts gehört uns mehr in diesem Land, nur die Stunde. Und die haben wir genossen, als wir zu dritt um einen reichlich gedeckten Frühstückstisch saßen, Herr Pauli noch in seinem Morgenrock, aber schon halbwegs wohlauf.
Über Berlin läuten die Glocken zum Sieg der Alliierten. Irgendwo steigt in dieser Stunde die berühmte Parade, die uns nichts angeht. Es verlautet, daß heute Festtag bei den Russen sei, daß die Mannschaften zur Feier des Sieges Wodka zugeteilt bekämen. An der Pumpe hieß es, Frauen sollten nach Möglichkeit die Häuser nicht verlassen. Wir wissen nicht recht, ob wir das glauben sollen. Die Witwe wiegt bedenklich den Kopf. Herr Pauli reibt sich schon wieder das Kreuz, meint, daß er sich legen müsse... Ich warte es ab.
Mittlerweile hatten wir das Thema Alkohol beim Wickel. Herr Pauli hat mal gehört, daß eine Anweisung an die kämpfende deutsche Truppe ergangen sei, Alkoholvorräte niemals zu vernichten, sondern sie dem nachsetzenden Feinde zu überlassen, da erfahrungsgemäß dieser durch Alkohol aufgehalten und in seiner weiteren Kampfkraft beeinträchtigt werde. Das ist so Männerschnack, von Männern für Männer ausgeheckt. Die sollen sich bloß mal zwei Minuten überlegen, daß Schnaps geil macht und den Trieb gewaltig steigert. Ich bin überzeugt, daß ohne den vielen Alkohol, den die Burschen überall bei uns fanden, nur halb so viele Schändungen vorgekommen wären. Casanovas sind diese Männer nicht. Sie müssen sich erst selber zu frechen Taten anstacheln, haben Hemmungen wegzuschwemmen. Das wissen sie oder ahnen es doch; sonst wären sie nicht so heftig hinter Trinkbarem her. Beim nächsten Krieg, der mitten unter Frauen und Kindern geführt wird (zu deren Schutz früher angeblich das Mannsvolk hinauszog), müßte vor Abzug der eigenen Truppen jeder verbliebene Tropfen an aufputschenden Getränken in den Rinnstein gegossen, Weinlager müßten gesprengt, Bierkeller hochgejagt werden. Oder meinetwegen sollen sie vorher für die eigenen Leute schnell noch eine lustige Nacht veranstalten. Bloß weg mit Alkohol, solange Frauen in Greifweite des Feindes sind.
Weiter, es ist Abend. Der vielgefürchtete Sonntag ist vorüber. Nichts ist passiert. Es war der friedlichste Sonntag seit dem 3. September 1939. Ich lag auf dem Sofa; draußen Sonne und Gezwitscher. Ich knabberte Kuchen, den die Witwe uns mit sündhaft viel Holz gebacken hat, und dachte über das Leben nach. Hier die Bilanz:
Auf der einen Seite stehen die Dinge gut für mich. Ich bin frisch und gesund. Es hat mir physisch nichts geschadet. Hab das Gefühl, als sei ich bestens für das Leben ausgerüstet, als hätte ich Schwimmhäute für den Modder, als sei meine Faser besonders biegsam und zäh. Ich passe in die Welt, bin nicht fein. Meine Großmutter hat Mist gefahren. Auf der anderen Seite stehen lauter Minuszeichen. Ich weiß nicht mehr, was ich noch auf der Welt soll. Ich bin keinem Mitmenschen unentbehrlich, stehe bloß so herum und warte, sehe derzeit weder Ziel noch Aufgabe vor mir. Ich habe lebhaft an ein Gespräch denken müssen, das ich einmal mit einer klugen Schweizerin durchfocht, und bei dem ich, gegen alle Weltverbesserungspläne, auf meinem Satz beharrte: »Die Summe der Tränen bleibt konstant.« Ganz gleich, unter welchen Fahnen und Formeln die Völker leben; ganz gleich, welchen Göttern sie anhängen und welchen Reallohn sie beziehen: die Summe der Tränen, der Schmerzen und Ängste, mit denen ein jeder für sein Dasein zahlt, bleibt konstant. Satte Völker suhlen sich in Neurosen und Überdruß. Den im Übermaß Gequälten kommt, wie jetzt uns, Stumpfheit zu Hilfe. Sonst müßte ich ja von früh bis in die Nacht weinen. Ich tu's so wenig wie die anderen. Es waltet da ein
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