Eine Frau in Berlin
einließ. Mit genügend Wasser und Mundvorrat hätte ich dort oben vermutlich als unentdecktes Dornröschen verharren können. Aber darüber wäre ich mit Sicherheit verrückt geworden, so allein.
Im Rathaus müssen sich mal wieder alle Leute melden. Heute war mein Buchstabe dran. Ungewohnt viele Menschen waren zur Stunde der Registrierung auf der Straße. Im Vorraum war ein Mann dabei, das Adolf-Relief mit Meißel und Hammer wegzuklopfen. Ich sah, wie die Nase absplitterte. Was ist Stein, was sind Denkmäler? Ein Bildersturm ohnegleichen geht in diesen Tagen durch Deutschland. Ob es nach solcher Götterdämmerung wohl jemals wieder eine Auferstehung der Nazigrößen gibt? Unbedingt muß ich, sobald ich den Kopf freier habe, mich mal mit Napoleon befassen, den sie auch seinerzeit verbannt und ausgetilgt, doch dann wieder hervorgeholt und erhöht haben.
Droben im dritten Stock mußten wir Frauen uns anstellen. Stockfinsterer Flur, Gedränge von Frauen, die man hörte, aber nicht sah. Vor mir ging die Rede vom Spargelstechen, zu dem schon etliche Frauen hinausgeschickt worden seien. Das wäre nicht übel. Hinter mir zwei Frauen, der Redeweise nach Damen. Die eine: »Wissen Sie, mir war alles gleich. Ich bin sehr eng, mein Mann hat darauf immer Rücksicht genommen.« Es scheint, daß diese Frau versucht hat, sich nach mehrfacher Vergewaltigung durch Gift das Leben zu nehmen. Aber: »Ich wußte das ja nicht. Man hat es mir hinterher erklärt, daß der Magen dafür angesäuert sein muß. Ich habe das Zeug nicht bei mir behalten können.«
»Und jetzt?« fragt leise die andere zurück.
»Pah, man lebt eben. Das Schöne ist ohnehin vorbei. Ich bin nur froh, daß mein Mann dies nicht mehr erlebt hat.«
Wieder einmal muß ich darüber nachsinnen, was es bedeutet, in Furcht und Elend allein dazustehen. Es erscheint mir leichter, da die Qual des Mitleidens fehlt. Was mag die Mutter eines zerstörten Mädchens empfinden? Was jeder wirklich Liebende, der nicht helfen kann oder nicht zu helfen wagt? Die langjährigen Ehemänner halten es anscheinend noch am besten aus. Man schaut nicht dahinter. Ihre Rechnung kriegen auch sie eines Tages von den Frauen präsentiert. Schlimm muß es für Eltern sein. Ich verstehe so gut, daß ganze Familien sich im Tode zusammenkrallen.
Drinnen bei der Registrierung ging alles im Handumdrehen. Jeder mußte sagen, welche Fremdsprachen er spricht. Als ich mein bißchen Russisch gestand, bekam ich einen Zettel in die Hand gedrückt, der mich verpflichtet, mich morgen früh bei der russischen Kommandantur zu Dolmetscherdiensten zu melden.
Den Abend über präparierte ich russische Vokabeln, empfand das Kümmerliche meiner Sprachbrocken. Ein Besuch treppab bei der Hamburgerin machte den Tagesschluß. Stinchen, die achtzehnjährige Studentin, ist endlich vom Hängeboden herabgestiegen. Die Risse von den Trümmerbrocken auf ihrer Stirn sind ausgeheilt. Sie gab sich ganz als wohlerzogenes höheres Töchterlein, trug die Kanne mit echtem Tee aus der Küche herzu und horchte auf unser Gespräch. Es scheint, daß unser junges Mädchen, das wie ein junger Mann aussieht, auch heil durchgerutscht ist. Ich erwähnte, daß ich gestern abend im Treppenhaus dieses Mädel gesehen hätte, wie es gerade einen Zank mit einem anderen Mädel durchfocht. Eine bronzebraune Person in weißem Pullover, recht hübsch, aber ordinär und hemmungslos in ihren Schimpfworten. Hier am Teetisch erfuhr ich nun, daß Eifersucht im Spiele war: Die Braune hat sich mehrfach und nachher mit einer gewissen Freiwilligkeit mit einem russischen Offizier eingelassen, hat mit ihm getrunken und Essen angenommen. Das geht der jungen Freundin an den Nerv, sie gehört zu den altruistischen Liebenden, hat im Verlauf der letzten Jahre ohne Ende für die Braune geschenkt und geschleppt. Das alles wurde ruhig und beiläufig beim Bürgertee abgehandelt. Es fiel kein Urteil, keine Wertung. Wir tuscheln nicht mehr. Wir zögern nicht mehr vor gewissen Worten und Dingen. Wir nehmen sie in den Mund, achselzuckend und wie vom Sirius her.
Mittwoch, 16. Mai 1945
Um sieben Uhr Moskauer Zeit stand ich auf. In den leeren Straßen Morgenstille. Noch sind die Läden leer und die neuen Karten nicht ausgeteilt. Am Gittertor der Kommandantur stand ein uniformiertes Mädchen und wollte mir den Eintritt verwehren; doch ich bestand auf meinem Schein.
Schließlich saß ich drinnen im Büro, beim Kommandanten, der zur Zeit Herr über mindestens hunderttausend
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