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Eine Frau in Berlin

Eine Frau in Berlin

Titel: Eine Frau in Berlin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anonyma
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Gesetz. Freilich taugt, wer an die Unveränderlichkeit der irdischen Tränensumme glaubt, schlecht zum Weltverbesserer und überhaupt nicht zu heftiger Tat.
    Einmal nachzählen: Ich war in zwölf Ländern von Europa, hab unter anderen in Moskau, Paris, London gelebt und Bolschewismus, Parlamentarismus, Faschismus aus der Nähe abbekommen, als einfacher Mensch unter einfachen Menschen. Unterschiede? Ja, beträchtliche sogar. Sie liegen aber, wie mir scheinen will, in der Form und Farbe, in den jeweils gültigen Spielregeln; nicht im größeren oder geringeren Glück der meisten, wie es noch das Anliegen von Candide war. Der kleine, dumpfe, untertänige Mensch, der einzig das Sein kennt, in das er hineingeboren wurde, erschien mir in Moskau nicht unglücklicher als in Paris oder in Berlin. Er hat sich den Lebensbedingungen, die er vorfand, seelisch angepaßt.
    Für mich entscheidet zur Zeit das Allerpersönlichste, mein Geschmack. In Moskau möchte ich nicht leben. Was mich dort am meisten bedrückte, war die pausenlose ideologische Schulung; sodann die Unmöglichkeit für Eingeborene, frei in der weiten Welt umherzureisen; und schließlich das Fehlen jeden erotischen Fluidums. Das Regime dort liegt mir nicht. In Paris oder London hingegen war ich gern. Doch hab ich dort stets aufs schmerzlichste verspürt, daß ich daneben stand, fremd blieb, bloß geduldet, Ausländer. Ich bin freiwillig nach Deutschland zurückgekehrt, obwohl Freunde mir zur Auswanderung rieten. Es war gut, daß ich heimkehrte. In der Fremde hätte ich nirgends Wurzeln schlagen können. Ich fühle mich meinem Volk zugehörig, will sein Schicksal teilen, auch jetzt noch.
    Aber wie? Zur roten Fahne, die mir in jungen Jahren so leuchtend erschien, führt kein Weg für mich zurück. Die Summe der Tränen ist auch in Moskau konstant geblieben. Meine fromme Kinderwiege ging mir verloren, Gott und Jenseits wurden zu Symbolen und Abstracta. Fortschritt? Ja, zu größeren Bomben. Das Glück der meisten? Ja, für Petka und Konsorten. Idylle im Winkel? Ja, für die Teppichfransenkämmer. Besitz, Behagen? Daß ich nicht lache, unbehauster Großstadt-Nomade, der ich bin. Liebe? Die liegt zertreten am Boden. Und stünde sie wieder auf, so würde ich ständig darum bangen, fände keine Zuflucht darin, wagte nie mehr, Dauer zu erhoffen.
    Vielleicht die Kunst, die Fron im Dienst der Form? Ja, für die Berufenen, zu denen ich nicht zähle. Bin nur ein kleiner Handlanger, muß mich bescheiden. Einzig im engen Kreis kann ich wirken und gut Freund sein. Der Rest ist Warten auf das Ende. Trotzdem reizt das dunkle und wunderliche Abenteuer des Lebens. Ich bleibe schon aus Neugier dabei; und weil es mich freut, zu atmen und meine gesunden Glieder zu spüren.
    Montag, 14. Mai 1945
    Motorlärm riß mich gestern abend aus dem ersten Schlaf. Draußen Rufe, Gehupe. Ich stolperte ans Fenster. Da stand unten wahrhaftig ein russischer Lastwagen voll Mehl. Kohle hat der Bäckermeister schon, also kann er backen, kann die Karten und Nummern beliefern. Ich hörte ihn jauchzen und sah, wie er dem russischen Fahrer um den Hals fiel. Der strahlte ebenfalls. Sie spielen gern den Weihnachtsmann.
    In grauer Frühe weckte mich heute die schnatternde Brotschlange. Sie wand sich um den halben Block herum, dauert jetzt am Nachmittag noch an. Viele Frauen haben sich Hocker mitgebracht. Ich höre förmlich die Fama zischeln.
    Wasser holten wir zum ersten Mal von einem richtigen Hydranten, gar nicht weit weg. Das ist etwas Wunderbares. Eine automatische Pumpe mit drei Hähnen, aus denen das Wasser in dickem Strahl sprudelt. Im Nu ist der Eimer gefüllt. Man braucht nur ein paar Minuten zu warten, bis man dran ist. Das ändert unseren Tag, macht unser Leben leichter.
    Auf dem Weg zum Hydranten kam ich an vielen Gräbern vorbei. Fast jeder Vorgarten hat die stille Einquartierung. Mal liegt ein deutscher Stahlhelm darauf, mal leuchten grellrot die russischen Einheits-Holzsäulen mit den weißen Sowjetsternen. Sie müssen ganze Wagenladungen von diesen Malern hergeschleppt haben.
    An den Bordsteinen ragen Holztafeln mit deutschen und russischen Inschriften. Eine besagt mit Stalins Worten, daß die Hitler etcetera verschwinden, daß Deutschland aber bleibe. »Losungi« nennen die Russen mit einem deutschen Fremdwort solche Kernsätze.
    Neben unserer Haustür kleben jetzt gedruckte »Nachrichten für Deutsche«. Das Wort klingt mir in diesem Zusammenhang so fremd in den Ohren, fast wie ein Schimpfwort.

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