Eine Frau in Berlin
Auf dem Blatt ist der Text unserer bedingungslosen Kapitulation zu lesen, unterzeichnet von Keitel, Stumpff, Friedeburg. Dazu Berichte über Waffenstreckung an allen Fronten. Göring ist gefangen. Eine Frau will über Detektor gehört haben, er habe wie ein Kind geweint bei seiner Festnahme und sei durch Hitler bereits zum Tode verurteilt gewesen. Ein Koloß auf tönernen Füßen.
Ein anderer, sehr umlagerter, sehr umstrittener Anschlag meldet, daß die Russen neue und höhere Lebensmittelrationen zur Verfügung stellen, die in fünf Gruppen gestuft an uns ausgegeben werden sollen: Für Schwerarbeiter, Arbeiter, Angestellte, Kinder, Sonstige Bevölkerung. Brot, Kartoffeln, Nährmittel, Ersatzkaffee, Bohnenkaffee, Zucker, Salz, ja sogar Fett. Im ganzen nicht übel, wenn es stimmt. Zum Teil höhere Rationen als zuletzt unter Adolf. Die Wirkung dieser Neuigkeit ist stark. Ich hörte: »Da sieht man wieder, daß unsere Propaganda uns bloß dumm gemacht hat.«
Ja, es stimmt, man hat uns so oft den Hungertod, die völlige physische Auslöschung durch die Feindmächte an die Wand gemalt, daß uns jedes Stück Brot, jede Andeutung, daß auch weiterhin für uns gesorgt werden soll, baß erstaunt. Insofern hat Goebbels den Siegern gut vorgearbeitet. Jede Brotkruste aus deren Hand erscheint uns wie ein Geschenk.
Am Nachmittag stand ich nach Fleisch an. Nichts instruktiver als so eine Schlangenstunde. Ich vernahm, daß in Richtung Stettin, Küstrin und Frankfurt/Oder bereits wieder Züge verkehren. Dagegen liegt der Stadtverkehr offenbar noch gänzlich still.
Eine Frau erzählte mit Befriedigung, wieso die Russen nach kurzem Durchgang ihr Wohnhaus mieden: Im ersten Stock fanden sie eine Familie vergiftet auf den Betten, im zweiten Stock eine Familie erhängt an den Fensterkreuzen in der Küche. Worauf sie voll Schrecken flohen und nicht wiederkehrten. Man ließ für alle Fälle die Abschreckungsobjekte noch eine Zeitlang an ihrem Platz... Mein Fleisch bekam ich glatt und gut. Schieres Rindfleisch, es hilft uns weiter.
»Um halb fünf Uhr nachmittags trifft sich im Keller die Hausgemeinschaft«, so wurde es von Tür zu Tür durchgesagt. Endlich soll die Kellerbarrikade weggeräumt werden. Gut so; dann wird der Weg zu den restlichen Kartoffeln der Witwe frei. Wir standen in langer Reihe den Gang entlang. Ein Kerzlein, auf einen Stuhl geklebt, gab schwachen Schein. Ziegelsteine, Bretter, Stühle und Matratzenteile wanderten von Hand zu Hand.
Im Keller Kraut und Rüben, d. h. wilder Wirrwarr. Kotgeruch. Jeder packte seinen Kram zusammen. Herrenloses Gut sollte im Lichthof niedergelegt werden. (Wobei die Witwe eine seidene Wäschegarnitur, die nicht ihr gehörte, sanft in ihren Sack verschwinden ließ. Sie besann sich allerdings später wieder auf die Zehn Gebote und gab das Stück, auf dessen Eigentümerin ein gesticktes Monogramm hinwies, als »irrtümlich eingesteckt« an die rechte Adresse zurück.) Die Eigentumsbegriffe sind völlig zerrüttet. Jeder bestiehlt jeden, weil jeder bestohlen wurde und jeder alles brauchen kann. So sammelte sich als »herrenlos« schließlich nur Schamott an: verwaschene Unterröcke, Hüte, ein Einzelschuh. Während die Witwe noch verbissen nach der Krawattenperle wühlte, deren Versteck sie vergessen hat, schleppte ich die Kartoffeln aufwärts, stellte sie vor Herrn Paulis Bett ab. Als die Witwe nachkam, kündete sie sofort wieder kassandragleich von Hungersnöten, die nach Verzehrung dieser letzten Kartoffelknollen über uns hereinbrechen würden. Herr Pauli sekundierte ihr kräftig. Ich habe das Gefühl, daß man in diesem Haushalt anfängt, mich als lästigen Mitesser zu empfinden, daß man mir die Bissen in den Mund zählt und mir jede Kartoffel mißgönnt. Dabei futtert doch auch Pauli von meinem Majorszucker mit. Ich will trotzdem versuchen, wieder auf eigene Futterbeine zu kommen. Nur – wie?
Zürnen kann ich den beiden nicht. Zwar hab ich es noch nicht ausprobiert; doch könnte es gut sein, daß ich in ähnlicher Lage auch ungern mein Essen teilen würde. Und ein neuer Major ist nicht am Horizont.
Dienstag, 15. Mai 1945
Die übliche Hausarbeit, es ödet einen an. Oben in der Dachwohnung, die ich zum ersten Mal seit dem Russeneinmarsch wieder betrat, kramen zwei Dachdecker herum. Ihren Lohn erhalten sie in Form von Brot und Zigaretten. Kein Russe hat in die Dachwohnung gefunden. Der feine Kalkbelag auf den Dielen, der jeden Fußabdruck verrät, war unberührt, als ich die Dachdecker
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