Eine Freundin zum Anbeissen
schob mit einem lauten Ratsch! den Stuhl zurück und war schon auf halbem Weg zur Bankreihe am Fenster, in der Helene saß. Silvania sprang auf. Sie wollte die fünf Minuten Pause zwischen Geschichte und Geo ebenfalls mit Helene, ihrer hoffentlich (bestimmt, ganz sicher) bald allerbesten Freundin verbringen. Silvania musste sich sehr zusammenreißen, dass sie nicht einfach gegen die radikale Regel Nummer eins (kein Fliegen bei Tageslicht) oder Nummer sechs (kein Flopsen) verstieß.
Doch nach ein paar Schritten wurden Daka und Silvania beide abrupt gestoppt. Ein Schrank stand vor ihnen. Der Schrank hatte kurze braune Haare, eine große runde Knollennase und kleine, spöttisch funkelnde Augen. Der Schrank hatte auch einen Namen. Er hieß nicht Billy und auch nicht Träby wie die Schränke in einem schwedischen Möbelhaus, sondern Lucas Glöckner.
»Gibt es in Seichenwürgen auch Friseure?«, fragte er.
Daka stöhnte. So war es die letzten Tage immer gewesen: Im unpassendsten Moment tauchte Lucas auf und stellte unpassende Fragen.
»Das heißt nicht Seichenwürgen, sondern Siebenbürgen«, zischte Silvania. »Und natürlich gibt es bei uns Friseure.«
»Warum seid ihr dann nicht mal zu einem hingegangen?« Er deutete auf Dakas Seeigelkopf und lachte. Er versuchte, monstermäßig tief zu klingen. Silvania und Daka fanden, er hörte sich wie ein gackerndes Huhn an.
Daka streckte Kinn und Brust vor. »Gibt es in Bindburg eigentlich ein Schwimmbad?«
Lucas runzelte die Stirn. »Klar, sogar mehrere.«
»Warum steckst du den Kopf da nicht mal unter Wasser und wartest, bis ein Fisch vorbeikommt, dem du deine Fragen stellen kannst?«, erwiderte Daka.
Lucas runzelte noch immer die Stirn. Dann erschien zwischen seinen Augen eine tiefe Falte. »He, das war jetzt aber nicht nett!«
Daka und Silvania beachteten Lucas bereits nicht mehr. Sie zwängten sich an der Seite an ihm vorbei. Sie mussten zu Helene, bevor die Pause vorüber war. Doch neben Helenes Tisch stand Rafael Siegelmann. Das war in den letzten Tagen auch immer so gewesen.
Wenn Lucas der Schrank war, dann war Rafael der Kleiderständer. Er war der Größte und Dünnste der 7 b. Er hatte blonde Haare, und sein Seitenscheitel erinnerte an eine Butterflocke auf einem Frühstücksbüfett. Wenn er eilig über den Schulflur zur nächsten Stunde lief, hatte er den Kopf leicht eingezogen, und seine Schultern fielen nach vorne, als würden unsichtbare Gewichte daran hängen. Aber wenn er einen Lehrer grüßte, sich meldete oder an die Tafel gerufen wurde, schoss sein Kopf in die Höhe, die Schultern nach hinten, und die Butterflocke kräuselte sich.
»Fumpfs!«, flüsterte Daka. »Was will Rafael denn schon wieder bei Helene?«
Silvania zuckte die Schultern. »Einfach Bester sein, auch bei ihr.«
Rafael war Bester in Mathe, Deutsch, Physik, Chemie, Biologie, Englisch, Geografie und Geschichte.
Er war Bester im Stillsein, Mitschreiben, Melden, Pünktlichsein, Ordentlichsein, im Lehrer-freundlich-Grüßen, im Nicht-bei-Rot-über-die-Ampel-Gehen, im Hand-vorm-Mund-beim-Gähnen und im Bestersein.
Silvania sah traurig zu Helene. »Meinst du, die beiden sind schon beste Freunde?«
»Gumox!« Daka konnte nicht glauben, dass Rafael Helenes Freund war. Denn im Freundsein, da war sich Daka sicher, war Rafael nicht der Beste. Daka ging mit großen Schritten zu Helene. Silvania folgte ihr.
Als sie bei Helene ankamen, klingelte es. Rafael drehte sich um, seine Butterflocke wackelte. Er beäugte Daka und Silvania kurz, zog eine Augenbraue hoch und sagte: »Ihr seid spät dran. Ich glaube, es hat gerade geklingelt.« Dann grinste er.
»Ja, am besten, du setzt dich schnell auf deinen Platz«, meinte Daka.
Rafael schielte zu Herrn Graup, der bereits vor der Klasse stand und die Ärmel seines dunkelblauen Hemdes hochkrempelte. Dann sah er zu Helene. »Also, wir sehen uns wie verabredet, ja?«
Helene nickte.
Silvania schluckte. Helene verabredete sich mit Rafael! Dabei sollte sie sich doch mit ihr verabreden. Daka ging es genauso. Den Zwillingen blieb keine Zeit für lange Reden. Sie mussten handeln. Sofort.
»Wollen wir im Kino morgen zusammen den Horror filmen?«, schoss es aus Silvania heraus.
Helene zog die Augenbrauen hoch. »Du willst mit mir morgen im Kino den Horrorfilm sehen?«
Silvania nickte und strahlte, als gäbe es nichts Schöneres auf der Welt als Horrorfilme. Dabei mochte sie die gar nicht. Genau genommen fürchtete sie sich in solchen Filmen. Aber Helene
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