Eine Freundin zum Anbeissen
hatte Silvania erzählt, dass sie Horrorfilme liebte und unbedingt in den aktuellen Gruselstreifen wollte, der erst ab 16 war. Silvania fand, dass man für seine baldige allerbeste Freundin Opfer bringen musste.
»Komm doch danach einfach bei mir vorbei«, schlug Daka vor. »Wir können in meiner Zimmerhälfte sitzen und mit Karlheinz spielen.«
»Karlheinz?«
»Mein Blutegel.«
Helene zuckte zusammen. Ob Karlheinz oder Herr Graup der Grund war, der gerade lautstark auf den Tisch klopfte, blieb unklar. »Okay«, flüsterte Helene. »Wir besprechen alles nach der Schule auf dem Heimweg.«
Die drei Mädchen nickten einander zu, und Daka und Silvania huschten unter dem finsteren Blick des Klassenlehrers zurück zu ihrer Bank. Herr Graup kündigte an, über ›ein sehr ernstes Thema‹ zu reden, und warf eine Abbildung zum Treibhauseffekt an die Wand. Das Thema war ernst, und Herr Graup war überhaupt nicht lustig. Trotzdem mussten Daka und Silvania grinsen. Warum? Weil sie der Gedanke an den Heimweg mit Helene herrlich im Bauch kitzelte.
Ein Papa kommt
selten allein
M ihai Tepes lehnte mit ausgestreckten Armen an seinem flaschengrünen Dacia. Der Dacia stand in der Ringeinatzstraße vor der Gotthold-Ephraim-Lessing-Schule. Ab und zu fuhr Herr Tepes mit einem Ärmel über die Motorhaube. Ganz sanft, als würde er ein Baby streicheln.
Es war ein Dacia 1300, Baujahr 1974. Er hatte vier Gänge, war ein Vierzylinder und hatte 54 PS. Der Dacia fuhr mit einer Höchstgeschwindigkeit von 145 km/h bei einem Verbrauch von 8,5 Litern pro 100 Kilometer. Opa Gustav war schleierhaft, warum Mihai Tepes an der alten Dreckschleuder hing. Er war der Meinung, der Wert des Dacias ließe sich schon verdoppeln, wenn man ihn volltankte. Doch Mihai Tepes liebte seinen »rumänischen Volkswagen". Er hatte es nicht übers Herz gebracht, den Wagen alleine in Siebenbürgen zurückzulassen. Aber eine Fahrt mit dem Dacia von Rumänien nach Deutschland kam nicht infrage. Das Auto war so altersschwach, dass es womöglich irgendwo in der Großen Ungarischen Tiefebene liegen geblieben wäre. Deshalb hatte Mihai Tepes sein Auto mit dem Zug von Transsilvanien nach Deutschland bringen lassen. Und heute – endlich – war der Dacia angekommen! Mihai Tepes ließ es sich nicht nehmen, seine Töchter damit von der Schule abzuholen. Sicher würden sie sich freuen.
Ein glänzend neuer Volvo parkte vor dem Dacia ein. Der Fahrer beäugte den flaschengrünen Old-timer im Vorbeigehen. Herr Tepes klopfte auf die Motorhaube, lächelte und sagte: »Original Automobilfabrik Piteşti. Spitzenqualität!« Sein Lakritzschnauzer kräuselte sich vor Stolz.
Der Volvofahrer nickte und ging schnell weiter.
Ein lautes Klingeln ertönte aus dem alten Schulgebäude. Kurz darauf öffneten sich die schweren Holztore, und Kinder, zahlreich wie Ameisen, rannten die Steinstufen zur Straße hinab. Es sah aus, als wäre die Schule ein Milchtopf, der am Überkochen war. Immer mehr Schüler brodelten aus dem Gebäude. Je jünger die Schüler, desto schneller rannten sie. Je älter die Schüler, desto lässiger schlurften sie.
Herrn Tepes' Töchter waren im mittleren Schlurfalter. Sie kamen im mäßigen Tempo die Treppe herunter. Herr Tepes erkannte sie sofort zwischen den anderen Schülern. Sie waren nicht so bunt gekleidet, redeten und gestikulierten nicht so viel und ... sahen einfach anders aus.
Daka hätte mit ihrer Seeigelfrisur und der übergroßen Sonnenbrille als Rockstar aus einem Schwarz-Weiß-Musikmagazin von 1978 durchgehen können. Silvania hätte mit ihrem Hut und dem akkurat geschnittenen Rock gut in einen alten englischen Roman gepasst (in dem es natürlich um Liebe, Verrat, Leidenschaft und Ehre ging). Herr Tepes war sehr zufrieden, dass sich seine Töchter von der Masse abhoben. Schließlich waren sie ja auch anders als alle anderen an der Schule. Das konnten sie ruhig zeigen.
Zwischen Daka und Silvania lief ein blondes Mädchen. Sie war normal in Jeans und T-Shirt gekleidet, aber sie leuchtete wie ein Engel, fand Mihai Tepes. Vielleicht lag es an den hellen Haaren oder an den funkelnden Augen. Ihr linker Arm war von oben bis unten bemalt. Oder waren das echte Tätowierungen? Auf einmal hob das Mädchen einen Arm und winkte. Herr Tepes zeigte fragend auf sich. Er sah sich um. Dann bemerkte er, dass das blonde Mädchen nicht zu ihm sah, sondern zu dem blauen Audi, der gerade hinter ihm einparkte.
»Papa!«, rief das Mädchen.
»Papa?!«, riefen Daka und
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