Eine Freundschaft im Winter
als der Nebel so dicht gewesen war, dass Mike nichts hatte sehen können und praktisch blind allen Gefahren ausgewichen war.
Mike lachte, setzte die letzte Kettensäge zusammen und ging hinein, um den Tisch zu decken, während Ben zu Ende kochte. Er fühlte sich ein bisschen besser. Doch die Feiertage kamen erst noch. Es war eine besonders schwere Zeit, wenn man zusehen musste, wie Menschen ihre Angehörigen verloren, und bei vielen Einsätzen erlebte er genau das. Und in diesem Jahr würde es für Mike noch schwerer werden.
In seinem Kopf versuchte er, die Tür zu dem Raum mit den grausamen Bildern zu schließen. Er stellte sich vor, wie er den Türgriff mit aller Macht zuzog. Er zog und zog, aber die Tür ging einfach nicht zu.
Als Jill an ihrem sechsten gemeinsamen Abend zu den Jones nach Hause kam, starrte Cassie auf einen »mangelhaft« benoteten Zwischenbericht ihrer Lehrerin und eine lange Liste von Hausaufgaben, die sie nachholen musste.
Jill setzte sich zu ihr und überflog die Liste. »Sieht so aus, als hätten wir alle Hände voll zu tun.«
»Das werde ich niemals alles schaffen. Ich kann mich nicht konzentrieren.« Resigniert schob Cassie das Blatt von sich.
»Wir machen das zusammen, Kleine. Ich werde dir helfen«, sagte Jill.
Cassie schlug ihr Mathebuch auf, und Jill machte mit ihr zusammen drei lange Divisionsaufgaben. Bei der dritten hatte Cassie die Vorgehensweise so gut im Griff, dass Jill den Salat zubereiten konnte. »Möchtest du ihn schlicht wie immer, oder bist du experimentierfreudig?«, rief sie aus der Küche.
»Ich bin immer experimentierfreudig!«, erwiderte Cassie.
»Kids mögen eigentlich kein gewagtes Essen«, sagte Jill und gab getrocknete Cranberrys, Walnüsse, Kichererbsen und Fetakäse in den Salat. Dann brachte sie ihn ins Wohnzimmer, und sie machten sich gemeinsam über ihr Arbeitsessen her.
»Das ist lecker«, sagte Cassie. »Ich wäre niemals auf die Idee gekommen, getrocknete Cranberrys in einen Salat zu tun.«
»Und ich hätte niemals damit gerechnet, dass eine Zehnjährige diese Kombination mag«, entgegnete Jill.
»Es macht Spaß, neue Geschmacksrichtungen auszuprobie ren.« Cassie schlug die nächste Seite auf und fing mit der Bruchrechnung an. »Ich mag frische Sachen. Mom hat immer frisch gekocht.«
Jill half Cassie, aus einer Reihe von Brüchen die gleichwertigen zu finden, bis sie schließlich selbst ganz in der Mathematik gefangen war. Als Nächstes stand Schreiben auf dem Plan. In dem Zwischenbericht stand, dass Cassie bisher überhaupt keine Arbeiten abgegeben hatte und somit auch nicht bewertet werden konnte.
»Die Lehrerin hat nichts dazu aufgeschrieben. Was war denn zu tun?«, fragte Jill.
»Normalerweise sollen wir jeden Tag wie in einem Tagebuch etwas notieren. Vor Thanksgiving mussten wir aufschreiben, wofür wir dankbar sind«, erklärte Cassie.
»Klar, die typische Aufgabe am Erntedankfest. Hast du denn nichts aufgeschrieben?«
»Nein«, antwortete Cassie. »Ich war für nichts dankbar. Was hätte ich denn schreiben sollen? Dass ich dankbar dafür bin, dass meine Mom tot ist?«
»Ich verstehe«, sagte Jill und dachte nach.
»Jeder sagt, dass er es versteht, doch keiner kann es wirklich nachvollziehen«, entgegnete Cassie.
Jill zog die Augenbrauen hoch. »Du bist nicht die Einzige, die jemanden verloren hat, Kleine.«
»Ja, ich weiß. Mein Vater hat auch jemanden verloren«, sagte Cassie schnippisch.
»Sei nicht so bockig, Cassie! Ich bin nicht dein Feind. Hör zu, wir machen einfach Folgendes: Du wirst ein bisschen schwindeln und all das Zeug schreiben, das deine Lehrerin vermutlich hören will. Es ist in Ordnung, manchmal ein bisschen zu tun als ob. Wenn alles schiefläuft, darf man das. Verstehst du? Es macht die Sache auch nicht besser, wenn du die fünfte Klasse wiederholen musst.«
»Ich bin nicht bockig«, sagte Cassie noch trotziger. »Ich mag es nur nicht, wenn Leute wissen, wie ich mich fühle. Das wissen sie nämlich nicht .«
»Ach so? Tja, Cassie, ich mag es auch nicht, wenn du behauptest zu wissen, wie ich mich fühle. Nur, dass du es weißt: Heute war der Stichtag. Heute sollte mein Baby geboren werden. Aber im Oktober ist es in meinem Bauch gestorben. Ich weiß tatsächlich nicht, wie es ist, die Mutter zu verlieren und die Feiertage ohne sie verbringen zu müssen. Doch ich weiß, wie es ist, die Feiertage überstehen zu müssen und dabei eine Leere zu spüren, die so groß ist, dass man sich fragt, ob man jemals wieder
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