Eine Freundschaft im Winter
den Berg heruntergetragen worden waren. Zuerst waren es nur Lichtpunkte gewesen, dann Menschen, die sie nach und nach wiedererkannt hatten, und schließlich hatte sie ihre Mutter erblickt. Ihre Mom hatte ihnen immer ein strahlendes Lächeln geschenkt, während sie auf ihren Skiern zwischen den beiden Reihen aus Zuschauern bis zum Ende hindurchgefahren war und dann zu der Stelle, an der die Skifahrer ihre Fackeln gelöscht hatten.
In diesem Jahr würde ihr Vater allein unten stehen und statt Kate Cassie dabei beobachten, wie sie die steilen Hügel vom Exterminator bezwang. Der Gedanke, dass ihr Vater an Heiligabend allein dort unten stand, brach Cassie das Herz. Sie wollte ihren Traum von Heiligabend ändern, damit sie und ihr Vater zusammenbleiben konnten. Doch ein Plan war ein Plan, und jede Abweichung davon würde nur die Aufmerksamkeit darauf lenken, dass alles falsch und sie noch immer nicht wieder sie selbst war.
Sieh nach unten, Kleines, hörte sie ihre Mutter in ihrem Kopf sagen. Es war grausam, die Stimme ihrer Mutter zu hören, wenn sie nicht am Flussufer bei den Kieselsteinen war.
Sie hob den Kopf und untersuchte ihr Kissen, die Falten im Laken. Nichts. Enttäuscht ließ sie den Kopf wieder aufs Kissen sinken.
Sieh nach unten, sieh nach unten, hörte sie wieder. Sie wollte der Stimme in ihrem Kopf zubrüllen, leise zu sein. Sieh nach unten, hörte sie erneut.
Cassie rollte sich auf die Seite und sah über die Bettkante auf den Boden. Der kleine Flechtteppich, der vor ihrem Bett lag, war an einer Seite umgeklappt, wahrscheinlich war ihr Vater darübergestolpert, als er letzte Nacht zu ihr ans Bett gestürzt war. In der Maserung des Holzes erblickte Cassie ein Herz, das für gewöhnlich vom Teppich verdeckt war. Ihre Tränen tropften darauf und zerplatzten. Sie griff hinter sich nach einem Kissen und drückte es an sich, da sie ihre Mutter nicht umarmen konnte.
»Ich weiß nicht, wie wir den Tag ohne dich überstehen sollen«, flüsterte sie.
Nur ein paar Auserwählte durften am Fackellauf teilnehmen: die Bergwacht, die Skilehrer und die Mitglieder der Skimannschaft, die zehn Jahre oder älter waren. Und so sah Mike zu, wie Cassie in die Skibindung stieg. Kate hatte sich immer freiwillig gemeldet, um Rennen zu stoppen, und hatte es gern getan. Mike konnte sich nicht so stark einbringen, denn sein Schichtplan ließ es nicht zu.
Genau genommen war Cassie in diesem Jahr kein Mitglied der Skimannschaft, aber Coach Ernie kannte sie schon ewig und hoffte, die Teilnahme würde sie wieder zurück zum Skisport bringen. Er wusste, dass sie sich auf diesen Tag gefreut hatte, seit sie laufen konnte.
Cassie kam Mike einsam und verloren vor, als sie so allein zum Skilift fuhr. Er hatte ihr freigestellt, sich doch noch anders zu entscheiden. Doch nun waren sie hier. Heute Abend würde er nicht seiner Frau dabei zusehen, wie sie mit einer Fackel in der Hand die steile Buckelpiste hinunterfuhr, sondern Cassie, die nun endlich an ihrer statt die Gelegenheit hatte, mitzufahren. Und Kate würde diesen Moment verpassen. Oder vielleicht auch nicht. Mike maßte sich nicht an, es genau zu wissen. Er hoffte, sie könnte es sehen. Und es tat ihm weh, als er sah, wie Cassie sich nun Stück für Stück von ihm entfernte und immer kleiner wurde.
In dem Moment kam Jill am Lift an und fuhr die der Bergwacht vorbehaltene Spur hinauf. »Hey, Cassie!«, rief sie. Cassie wirkte erleichtert, als sie sie sah. »Scooter, kann ich meine Skistöcke hierlassen?«, fragte Jill.
»Klar«, sagte er und nahm sie ihr ab.
Cassie hatte ihre gar nicht erst mitgenommen, da sie wusste, was sie erwartete. Scooter reichte ihnen die Hände und zog sie vor bis an die blaue Linie, wo sie gemeinsam auf den Sessel warteten.
»Du bist der Beste, Scooter«, sagte Jill.
»Das sagen sie alle«, erwiderte er, und Jill lachte.
Mike sah zu, wie der Lift die beiden davontrug, und in seinem Herzen regte sich Dankbarkeit. Dankbarkeit für ein gutes Timing. Dankbarkeit für den richtigen Menschen, der genau in dem Moment auftauchte, wenn man ihn am meisten brauchte. Dankbarkeit für ein bisschen Wärme und Gnade in dieser Welt.
»Ich habe gestern deine Lehrerin verarztet«, sagte Jill im Sessellift zu Cassie. »Sie ist nett.«
»Was hatte sie denn?«
»Sie ist gestürzt, und einer ihrer Skier hat sie im Gesicht getroffen und eine kleine Schnittwunde verursacht. Es war nicht so schlimm. Es geht ihr bald wieder gut. Aber wir haben über dich und die
Weitere Kostenlose Bücher