Eine Freundschaft im Winter
Orangensaft.
»Was ist los?«, erkundigte sie sich.
Er lehnte sich an den Türrahmen. »War eine harte Nacht. Manchmal sehen wir Dinge … Schlimme Dinge. Ich musste zu einem fürchterlichen Einsatz.«
Als er nichts mehr sagte, begann sie zu erzählen: »Wieder zurück auf der Station habe ich nicht einmal eine komplette Schicht durchgehalten. Sie brachten eine junge schwangere Crystal-Meth-Abhängige, die eine Früh geburt hatte. Sie wollte ihr Baby nicht einmal sehen, also blieb ich bei dem Neugeborenen, während es starb. Es hat mich fertiggemacht, dass jemand das eigene Kind, etwas, das ich mir so sehr gewünscht habe, als selbstverständlich betrachtet und einfach wegwirft.«
Er nickte. Sie verstand ihn gut. Sie wusste, wie hässlich die Schattenseiten des Berufs sein konnten und wie viel schwerer das alles nach einem persönlichen Verlust war. Es war eine Erleichterung, mit jemandem reden zu können, der ihn verstand. Er senkte für einen Moment den Blick. »Cassie hat erzählt, dass du dein Baby verloren hast. Es tut mir so leid.«
Sie nickte ebenfalls. »Ja, es war vielleicht nicht unbedingt angemessen, ihr das zu erzählen. Doch sie war am Tag des Geburtstermins so frech zu mir, und ich musste sie dazu bringen aufzuhören.«
»Ich glaube nicht, dass es schlecht für sie ist zu erfahren, dass andere Menschen auch Schmerz und Verlust kennen. Und dass es nicht bedeutet, dass es einem Menschen gut geht, nur weil es nach außen hin so scheint.«
Ihr Ton war persönlicher geworden, seit sie sich duzten, doch sie hatten noch nie eine Unterhaltung geführt, bei der es angebracht schien, einander tief in die Augen zu sehen. Als es nun so weit war, erkannte sie so vieles in seinem Blick: Sie sah Schmerz, aber auch Mitgefühl, ganz ohne zu verurteilen, tiefe Sorge und etwas wie Geduld oder Toleranz – eine Kraft, weiterhin alles zu ertragen. Eine Kraft, die weiter den Schmerz der Menschheit ertragen würde. Eine Kraft, die weiter Cassies und seinen eigenen Schmerz ertragen würde. Und sie sah Wärme und die Suche nach etwas, auch wenn sie nicht wusste, wonach er suchte. Vielleicht nach Antworten. Vielleicht nach jemandem, der die Lücke füllen konnte. Sie zuckte die Schultern, als wüsste sie es nicht. Nach einem kurzen Zögern fragte sie: »Was ist denn in der letzten Nacht passiert?«
Er holte tief Luft. »Ein Autounfall mit zwei sechzehnjährigen Jungs. Sie waren zerfetzt. Einfach zerfetzt. Es hat eine Ewigkeit gedauert, die Leiche des Fahrers aus dem Wrack zu befreien. In der Zwischenzeit hat ein Zeuge offenbar die Eltern angerufen. Ich habe den toten Jungen aus dem Auto gezogen und in meinen Armen gehalten. Als ich mich umdrehte, standen seine Eltern da und starrten uns an. Sie waren total am Boden zerstört.«
Jill schüttelte den Kopf. Tränen brannten in ihren Augen. Sie wollte ihn in die Arme schließen und ihm sagen, dass alles gut werden würde, doch sie tat es nicht, weil es nicht stimmte. Es würde nicht alles wieder gut werden. Also hörte sie ihm nur weiter zu.
»Ja, der Tod ist ein Teil des Lebens«, fuhr er fort. »Ich habe das verstanden. Aber es ist eine Sache, wenn eine Großmutter an einer Herzkrankheit stirbt. Etwas vollkommen anderes ist es, wenn es um ein Kind geht und wenn die Todesursache nicht natürlich ist.«
»Ich habe manchmal Geburtsfehler gesehen, die so schlimm waren, dass das Kind nicht einmal mehr menschlich aussah. Ich glaube, das ging mir am meisten an die Nieren. Ich habe verfolgt, wie die Eltern versucht haben zu begreifen, dass das Kind, von dem sie geträumt haben, nicht lebensfähig sein wird. Dank medizinischer Hilfe dürfen solche Kinder diese Welt jedoch auch nicht verlassen. Sie verbringen ein leidvolles Leben im Fegefeuer.« Erinnerungen an Kinder und Eltern schossen ihr durch den Kopf, und sie fragte sich, wie es ihnen jetzt gehen mochte.
Mike rieb sich über die Stirn. »Manchmal komme ich nach Hause und bin so froh, dass Cassie einen weiteren Tag überlebt hat. Es gibt Tage, an denen mir das fast unfassbar vorkommt. Ich meine angesichts der Tatsache, dass im gesamten Land, in ungefähr jedem zwanzigsten Haushalt, jemand mit gewaltiger Scheiße fertigwerden muss. Ich spreche nicht von normalen Vorfällen, sondern von richtig schlimmen Dingen.«
Jill nickte stumm.
»Es tut mir leid. Ich wollte dir nicht den Tag verderben«, murmelte er und schien mit einem Mal unsicher.
»Du hast mir nicht den Tag verdorben. Ich habe das schon erlebt. Für gewöhnlich
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