Eine Freundschaft im Winter
Traurigkeit war so schwer, dass sie sie nicht tragen konnte – egal, was sie auch unternahm.
Sie erinnerte sich an die Trauergäste bei der Beerdigung ihrer Mutter. Die meisten waren im Alter ihrer Großeltern gewesen und hatten zu ihr gesagt: »Ach, Kind, weine nicht.« Oder: »Sei stark für deinen Vater.« Und sie hatte sich bemüht. Sie hatte sich wirklich bemüht, ihn nicht mit ihren Tränen zu belasten. Sie hatte sich bemüht, stark für ihn zu sein. Sie schnitt Schneeflocken aus Papier aus und lernte, gesundes Essen zu kochen. Jetzt würde sie ihm einen Kuchen backen, und obwohl sie ihr ganzes Herzblut hineinlegen würde, wusste sie, dass er trotzdem traurig sein würde. Es würde der erste Valentinstag ohne ihre Mutter für ihn sein. An dieser Wahrheit führte kein Weg vorbei. Sie könnte ihm den großartigsten Kuchen der Welt backen, und trotzdem würde das seine Traurigkeit nicht lindern. Sie fühlte sich müde. Sie fragte sich, wie lange sie sich noch bemühen und ihre eigene Traurigkeit verbergen könnte, wie lange sie ein fröhliches Gesicht machen und einen schönen Kuchen backen könnte.
Und in dem Moment erblickte sie Socks, der auf der Straße lag, das Mäulchen offen, der Körper seltsam verdreht. Sie schrie: »Nein!«, und rannte los. Sie hob den zerschmetterten Körper ihres Katers auf und fiel zitternd auf die Knie. Alle starben.
Unvermittelt spürte sie Jills Arme um sich, die sie hielten, an ihre Brust zogen, sie sacht wiegten. Cassie rang nach Luft. Sie war sich der Laute, die sie ausstieß, oder dem Rotz, der ihr aus der Nase lief und auf ihrer Oberlippe gefror, kaum bewusst. Erst allmählich fühlte sie das Gewicht ihres toten Katers. Sie blickte in den Himmel hinauf und schrie, so laut sie konnte. Sie brauchte ihre Mom. Sie zeigte ihrer Mom, wie außer sich, wie fassungslos, wie tieftraurig sie war. Sosehr sie sich auch bemüht hatte, keine Belastung für ihre Mutter zu sein, jetzt konnte sie all den Schmerz nicht mehr alleine schultern.
Jill hob sie hoch, als sich ihnen Autoscheinwerfer langsam näherten. Socks’ Kopf und Schwanz hingen herunter. Cassie hielt ihn noch immer in den Armen. Das Auto hielt am Straßenrand, und Tom sprang heraus. »Jill, was ist passiert?«
»Wir haben gerade Cassies Kater gefunden. Er ist von einem Auto überfahren worden«, antwortete Jill.
Tom legte die Hände auf Cassies Schultern. »Cassie«, sagte er, »schau mich an!« Sie fühlte, wie ihre Augen sich auf ihn richteten und sein Gesicht betrachteten. »Ich werde den Kater für dich beerdigen.« Er schob die Hände unter Socks und nahm ihn ihr ab. Ihr Weinen wurde einen Moment lang noch heftiger, denn ihr wurde klar, dass dies das letzte Mal war, dass sie ihren Freund sah. »Bring sie ins Haus, und sieh zu, dass sie es warm hat«, sagte Tom zu Jill.
»Danke, Tom.« Jill setzte Cassies Füße auf den Boden, ließ sie jedoch nicht los. »Komm mit, Schätzchen«, sagte sie sacht und brachte sie ins Haus. Sie zog ihr die blutverschmierten Handschuhe, Jacke und Skihose aus und führte die weinende Cassie zum Sofa neben dem Holzofen.
Fast unbemerkt kam Tom herein, um Streichhölzer und Zeitungspapier zu holen.
Und Cassie, die sich nun keine Gedanken mehr darüber machte, dass sie jemanden mit ihrer Trauer belasten könnte, vergoss in Jills Armen die Tränen der vergangenen sieben Monate.
Nachdem Cassie irgendwann erschöpft eingeschlafen war, sah Jill aus dem Fenster und beobachtete Tom, der mit seiner Schaufel im hinteren Teil des Gartens zugange war. Er schaufelte die brennenden Holzscheite zur Seite und begann dort, wo das Feuer den gefrorenen Boden aufgetaut hatte, zu graben. Dann beerdigte er den Kater und warf Schnee auf das frische Grab.
Jill wartete darauf, dass er zu ihnen hereinkam, aber das tat er nicht. Er ging zurück zu seinem Wagen und fuhr davon. Sie wusste nicht, wie sie ihm danken sollte. Doch eine warme Mahlzeit und ein heißer Kakao wären in ihren Augen durchaus geeignet gewesen.
Mit einem Mal wurde ihr klar, dass es oft die kleinen Gesten waren, die engelhaft waren. Vielleicht gab es im Himmel Engel, vielleicht aber auch nicht. Vielleicht hatten Engel dabei geholfen, dass Tom derjenige gewesen war, der in genau dem richtigen Moment vorbeigekommen war. Sie wusste es nicht. Doch sie wusste, dass es Engel auf der Erde gab. Sonst hätte Tom nicht den toten Kater des Kindes beerdigt. Das hätte er nicht machen müssen, aber er hatte es getan. Es war eine kleine Geste, und dennoch
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