Eine Freundschaft im Winter
wieder in einer Reihe auf und gingen in die Kantine. Cassie lief zum Ende der Schlange. Sie war ungern eine der Ersten an der Essensausgabe, denn dann saß sie allein am Tisch und sah zu, wie die Kinder an ihr vorbeigingen und sie mieden. Wenn sie am Ende der Schlange stand, konnte sie sich ihr Essen holen und die Aufseherin im Speisesaal bitten, sie zu einem der letzten freien Plätze zu bringen. So musste sie keine Entscheidung treffen und auch nicht um Erlaubnis der anderen Kinder am Tisch fragen. Laurel sagte ihr, wo sie sich hinsetzen sollte, und sie nahm Platz. Wer auch immer neben ihr saß, duldete sie. Es musste nicht gesprochen werden, obwohl sie es manchmal taten. Heute setzte die Aufseherin sie neben Renee und Alyssa. Hailey war an einem anderen Tisch – offenbar schnitten die beiden sie gerade. Cassie war froh und erleichtert, dass sie bei solchen Dingen nicht mitmachte.
»Hi«, sagte Renee.
»Hi«, antwortete Cassie.
»Wie geht es dir?«, erkundigte sich Renee. Seit Cassies Mom gestorben war, versuchte Renee, nett zu ihr zu sein. Das musste Cassie ihr lassen, sie bemühte sich wirklich.
»Ich habe gesehen, wie du Sean vor der Pause den Finger gezeigt hast. Das war lustig«, sagte sie.
Renee lachte. »Sean ist ein Idiot.« Cassie nickte und widmete sich ihrem Essen. Das war es. Ihre Unterhaltung war vorbei. Es reichte, um die Anspannung zu lockern, aber es war nicht genug, um Freundschaft zu schließen. Es war gut so. Renee wandte sich ab und lästerte mit den anderen Mädchen. Cassie aß auf und brachte ihr Tablett weg. Für gewöhnlich verschanzte sie sich für den Rest der Pause in einer Toilettenkabine und wartete darauf, dass es zum Unterricht klingelte. Doch heute war ihr nicht danach zumute, sich zu verstecken. Stattdessen stellte sie sich an ein Fenster, blickte hinaus und wünschte sich, woanders zu sein. Sie spielte mit dem Gedanken, sich aus der Schule zu schleichen, sich in ihrer Garage zu verkriechen oder vielleicht zum Fluss zu gehen.
Mrs. Peterson, die Bibliothekarin, bemerkte Cassie und blieb stehen. »Komm mal mit. Ich habe da ein Buch, das ich dir gerne zeigen würde.«
Cassie folgte ihr den Flur entlang. In der Bibliothek sagte Mrs. Peterson zu ihr: »Eigentlich habe ich das nur gesagt, weil du auf mich so gewirkt hast, als würdest du dich gern auf und davon machen. Aber es war nicht gelogen, denn ich habe ganze Regalwände voll von Büchern, die dich interessieren könnten.« Sie schrieb etwas auf einen Zettel und reichte ihn Cassie.
Bitte schicken Sie Cassie in die Bibliothek, wenn sie mit dem Mittagessen fertig ist. Sie ist meine Aushilfe.
Mrs. Peterson
»Das ist deine ›Du kommst aus dem Gefängnis frei‹-Karte«, erklärte sie. »Wenn du den Zettel verlierst, schreib ich dir einen neuen.«
Cassie schenkte ihr ein kleines Lächeln. »Danke.«
Mrs. Peterson zwinkerte ihr zu und setzte sich an ihren Schreibtisch. »Such dir ein Buch aus«, sagte sie. »Viel Spaß beim Lesen.«
Cassie ging los, um die Bücherreihen zu durchstöbern. Sie hatte einen Zufluchtsort gefunden. Es gab jemanden an der Schule, der zumindest ein Stück weit verstand, was sie brauchte. Und Mrs. Peterson würde es bemerken, wenn sie früher aus der Schule verschwand, also würde sie es wahrscheinlich nicht tun. Cassie wollte nicht, dass die Bibliothekarin den Eindruck bekam, sie würde ihre Unterstützung nicht zu schätzen wissen. Cassie würde selbstverständlich hierherkommen. Auch das hatte sich geändert. Sie ging in den Bereich Skisport und zog die Biografie von Picabo Street heraus.
Als sie sich zwischen die Regale setzte, geriet sie ins Grübeln. Keine der kleinen Begebenheiten an diesem Tag war besonders bemerkenswert gewesen, doch zusammen ergaben sie alle eine Art Veränderung. Sie fühlte sich unruhig, kribbelig. Es fühlte sich an, als würde sie ins Leben zurückkehren. Rastlosigkeit breitete sich unaufhaltsam in ihr aus. Es war Missmut, es war ein Wunsch nach mehr, der sie überkam. Es war Bewegung in ihr Leben gekommen.
Drei Stunden später kam Cassie nach Hause, lief sofort in ihr Zimmer und schlug das Buch ihrer Mutter auf, um das nächste Gebet zu lesen, das Kate niedergeschrieben hatte.
Gott, wo auch immer du bist und wer du auch immer sein magst, bitte fülle mich aus. Fülle mich so aus, dass kein Platz mehr für die Angst bleibt. Damit ich weiterlebe, auch wenn ich aufgeben möchte. Lass nicht zu, dass ich aufgebe. Ich weiß, dass ich aus einem besonderen Grund hier bin.
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