Eine ganz andere Geschichte
jedoch gezwungen gewesen war, auf Grund der sumpfigen Beschaffenheit des Untergrunds umzukehren. Jetzt trat ich vorsichtig von einem Grasbüschel auf den nächsten, das war in der Dunkelheit, mit dem Mädchen über der Schulter, nicht leicht, aber der Mond zeigte sich wieder für eine Weile, ein großer, bleicher, abnehmender Mond, und er half mir, die richtige Stelle zu finden. Vom Pfad ging ich zehn Meter weiter in dem hüfthohen Gras, dann blieb ich stehen, legte den Körper ab und stieß versuchsweise den Spaten in den Boden.
Es ging genauso einfach, wie ich es mir vorgestellt hatte, und – um eine lange und schmerzhafte Geschichte etwas kürzer zu machen –, bald hatte ich das Mädchen in der Erde. Sonderbar war noch, dass ich das Grab kaum wieder zuschütten musste, es schien, als wollte die Erde ihren Körper in sich aufsaugen, er wurde von der feuchten, duftenden Erde wie in einer Umarmung umschlossen, und auf eigentümliche Art und Weise begriff ich, dass sie hier daheim war. Hier und nirgendwo sonst.
Ich ging zurück auf den Weg. Schaute auf die Uhr, es war zwanzig Minuten nach zwei. Plötzlich spürte ich, wie mich eine unfassbare Müdigkeit überfiel, eine Eule rief ein paar Meter von mir entfernt, und ich wusste nicht, wie ich es zurück zum Haus schaffen sollte.
Aber ich schaffte es. Erik muss noch wach gewesen sein, nachdem ich den Spaten aus dem Schuppen geholt hatte, denn die Außenlampe war ausgeschaltet. Ich brachte den Spaten zurück und ging unter die Dusche, lange stand ich unter dem rinnenden Wasser und versuchte jede Spur und jede Erinnerung an diesen schrecklichen Tag abzuspülen, und als ich endlich ins Bett kam, war es schon fast vier geworden.
Und ich schlief vier Stunden, duschte erneut und begann mit meinen Aufzeichnungen.
Von Erik keine Spur, er muss frühmorgens aufgebrochen sein. Ja, zweifellos sitzt er bei den anderen und berät sich mit ihnen. Es ist Montag, zwei Uhr, ich spüre den starken Drang, zurückzugehen, den Platz wieder aufzusuchen, an dem ich das Mädchen heute Nacht begraben habe, aber natürlich darf ich dem nicht nachgeben.
Ich spüre noch andere Impulse, sie sagen mir, dass ich meine Sachen packen und zusehen soll, dass ich von hier fortkomme, aber die Müdigkeit lähmt mich.
Außerdem schmerzt mein Fuß, eine angeschwollene, dunkle Mondsichel zeigt sich an der Außenseite des Knöchels, es ist sicher nichts Ernstes, aber ein paar Tage Ruhe erscheinen mir eine allzu verlockende Alternative, der ich mich nicht verweigern will.
Natürlich könnte es auch wichtig für mich sein, zu erfahren, welche Pläne bei dieser Beratung geschmiedet werden. Ich lege mich auf einen der Liegestühle auf der Terrasse unter den Sonnenschirm und warte auf Erik.
Ich fühle, dass ich ein anderer Mensch bin, als der ich vor vierundzwanzig Stunden war.
Kommentar, August 2007
Das stimmt nicht. Wenn wir uns häuten und ein anderer werden, dann geschieht genau das. Die Häutung. Den Inhalt, unseren Kern und unsere wahre Identität tragen wir immer mit uns.
Wir können ihnen nicht entfliehen, und ich kann nicht vor diesen Tagen fliehen und dem, was passiert ist. Diese Menschen klebten wie Blutegel an mir, saugten mir das Blut und meinen Verstand aus, und das, was jetzt geschieht, ist natürlich nichts anderes als eine logische Folge. Handlungen haben ihre Konsequenzen, früher oder später muss jeder seine rechtmäßige Verantwortung übernehmen, in der gleichen Weise, wie ich meine Verantwortung übernehme, wenn ich die blutigen, aber unvermeidlichen Taten begehe, die auszuführen ich jetzt im Begriff bin.
Im Laufe der Jahre ist mir das Mädchen immer wieder in meinen Träumen erschienen, meistens hat es sich dabei um angsterfüllte Augenblicke voller kaltem Schweiß aus den Minuten in den Wellen gehandelt – und von der nächtlichen Wanderung durch das Morastland, einmal lebend, das andere Mal tot –, aber seit ich schließlich den Entschluss gefasst habe, haben die Träume ihren Charakter geändert. Es gibt plötzlich ein Licht, einen ganz deutlichen Streif von Versöhnung. Als ich heute Morgen im milden Dämmerungslicht in meinem Schlafzimmer dem Mädchen begegnet bin, befanden wir uns an einem lang gestreckten Strand, vielleicht war es sogar die Strecke zwischen Mousterlin und Bénodet, aber dessen bin ich mir nicht sicher – wir erkannten uns bereits von weitem wieder, ich sah schon, dass sie sowohl ihren Rucksack mit der daraus hervorragenden Staffelei trug als auch ihr
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