Eine ganz andere Geschichte
viel.«
Sie nickte nachdenklich, strich sich mit dem Zeigefinger über die Wange. Er fragte sich plötzlich, wie alt sie wohl war. Zwischen fünfundfünfzig und sechzig wahrscheinlich, aber da sie so feingliedrig war, konnte man sie für deutlich jünger halten. Zumindest aus der Entfernung.
Aber jetzt saß sie nicht weit entfernt von ihm, jetzt saß sie anderthalb Meter vor ihm. Er sah, dass er sie beunruhigt hatte. Er war natürlich kein normaler Patient, das war ihm schon klar. Saß da und plauderte von fünf toten Menschen, als wäre das Alltagskost, und dabei war nicht die Rede von irgendwelchen Phantasiegeburten. Das war die aktuelle Wirklichkeit. Dennoch … dennoch ging es nicht um diese Menschen, dachte er, im Augenblick ging es tatsächlich um ihn selbst. Den momentan freigestellten Kriminalinspektor Gunnar Barbarotti. In gewisser Weise meinte er sich in regelmäßigen Abständen daran immer wieder erinnern zu müssen.
»Können Sie mir genauer erzählen, wie Sie das erlebt haben, was da am Küchentisch passiert ist?«
Er versuchte es. War nicht der Meinung, besonders treffende Worte zu finden, aber sie hörte zu und nickte, als verstünde sie etwas. Vielleicht wollte sie ihn auch nur aufmuntern.
»Was stand in dem Brief? Sie brauchen natürlich nicht alles preiszugeben, aber hat er sich in irgendeiner Weise von den vorherigen unterschieden? Sie haben doch … wie viele haben Sie gekriegt?«
»Fünf Stück. Das war der fünfte. Doch, er hat sich ein bisschen unterschieden.«
»Und wie?«
»Zum einen hat er geschrieben, dass das der letzte Brief ist, dass er nur noch eine Person ermorden will … zum anderen hatte ich das Gefühl, dass er sich direkter an mich gewandt hat als bisher.«
»Das verstehe ich nicht ganz.«
»Entschuldigung. Nein, es ist nur so, dass ich mir für einen kurzen Moment eingebildet habe, dass ich derjenige bin, der an der Reihe ist.«
»Dass er daran denkt, Sie auch zu töten?«
»Ja, obwohl das wohl nicht so ist. Ich habe es eben nicht richtig verstanden. Aber das hat mich überrollt … ja, und dann hat meine Kollegin auch Vermutungen in diese Richtung aufgestellt. Jedenfalls glaube ich, dass sie das hat.«
»Das klingt ein wenig unklar.«
»Das ist es auch, aber auf jeden Fall kann es dieser Gedanke sein, der die Lähmung ausgelöst hat.«
»Lähmung? Finden Sie das einen guten Ausdruck, um zu beschreiben, wie Sie sich gefühlt haben?«
Er dachte nach.
»Ja, das kommt ganz gut hin.«
Wieder ein Nicken, als belohne sie ihn diskret dafür, auf mehrere schwierige Fragen in Folge richtig geantwortet zu haben.
»Finden Sie es anstrengend, hier zu sitzen und mit mir zu reden?«
»Nicht besonders. Ich … ich habe Vertrauen zu Ihnen.«
»Danke. Ich muss doch noch etwas anderes fragen … wenn wir zurück zu Ihrem deprimierten Empfinden gehen. Haben Sie sich jemals so deprimiert gefühlt, dass Sie überlegt haben, sich das Leben zu nehmen?«
»Nein«, erklärte Barbarotti.
»Jetzt oder früher einmal?«
»Nein, ich glaube, auf die Idee würde ich nie kommen.«
»Sie haben nie Gedanken in dieser Richtung gehabt?«
»Nein.«
»Wenn wir uns jetzt Ihre Situation allgemein ein wenig anschauen. Gibt es andere Faktoren, von denen Sie annehmen, dass sie ein Grund dafür sein könnten, dass sie so niedergeschlagen sind? Dinge, die Ihr Leben in letzter Zeit beeinflusst haben?«
Dieses Mal zögerte er mit der Antwort, aber sie drängte ihn nicht. Saß einfach nur vollkommen still da und wartete geduldig. Er dachte, dass das eine Eigenschaft war, die er bewunderte, Geduld. Vielleicht weil er selbst davon nicht besonders viel besaß.
»Hm, ja«, räusperte er sich schließlich. »Es gibt da so einiges, über das man ins Grübeln kommen kann. Aber normalerweise mache ich mir keine großen Gedanken darüber.«
Sie lächelte kurz.
»Es kommt vor, dass man das nicht tut«, bestätigte sie. »Aber vielleicht ist es jetzt an der Zeit. Können Sie mir erzählen, was Sie in letzter Zeit negativ beeinflusst hat?«
»Zum Beispiel meine Tochter«, sagte er.
»Was ist mit Ihrer Tochter?«
»Sie ist von zu Hause ausgezogen. Sie ist neunzehn, hat im Frühling Abitur gemacht, jetzt wohnt sie in London und ist mit so einem zotteligen Musiker zusammengekommen.«
»Einem zotteligen Musiker?«
»Ich weiß nicht genau, ich habe ihn noch nie gesehen.«
»Aber das beunruhigt Sie?«
»Ja.«
»Sehr?«
»Das beunruhigt mich ziemlich. Ich bin seit fast sechs Jahren geschieden. Sara hat
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