Eine ganz andere Geschichte
Ruhe ihrem trivialen Strandleben widmen und vergessen können, was passiert ist. Ich habe eine Weile mit dem Gedanken gespielt, ihnen zu liebe meine Reise bereits heute Abend fortzusetzen. Aber vor morgen früh geht kein Bus von Quimper, und sich an die Straße zwischen Mousterlin und Fouesnant zu stellen und zu trampen, erscheint mir nicht besonders verlockend. Das könnte außerdem Aufmerksamkeit erwekken, und Aufmerksamkeit ist ja wohl genau das, was momentan am wenigsten erwünscht ist.
Erik kommt nach Hause, während ich auf der Terrasse sitze und diese Zeilen schreibe. Er fragt, ob ich mit zum Essen ins Le Grand Large komme, sie haben dort frische Muscheln. Ich erkläre, dass ich noch meine Sachen packen muss und mir ein Brot genügt. Erik duscht, zieht sich um und macht sich erneut auf den Weg. Es ist halb acht, als ich den Stift hinlege und nach drinnen zum Kühlschrank gehe.
Ich stehe am Herd und mache mir zwei Spiegeleier. Ich versuche die Nachrichten zu verstehen, die aus dem Transistorradio auf dem Fensterbrett dröhnen. Mein Französisch hat sich während der Zeit, die ich hier bin, um einiges verbessert, und ich verstehe das meiste, was gesagt wird. Das Wasser im Wasserkocher blubbert, und der Apparat schaltet sich aus, als ich ein Räuspern auf der Terrasse höre. Ich lege den Bratenwender in die Pfanne und ziehe diese vom Gas. Trockne mir die Hände im Küchenhandtuch ab und gehe hinaus.
Da steht eine ältere Frau unter dem Sonnenschirm. Sie ist schwarz gekleidet, sieht fast aus wie eine griechische Witwe, obwohl, der Stoff ist dünner, die Haare sind rabenschwarz, sicher gefärbt, und sie trägt einen breitkrempigen, blutroten Strohhut. Sie ist klein und dünn, höchstens hundertundsechzig Zentimeter, aber ihr Gesicht ist kraftvoll. Irgendwie exotisch mit dunklen Augen, einer scharfen Nase und energischem Kinn. Sie sieht mich mit leicht blinzelndem Blick an, vielleicht ist sie ja etwas kurzsichtig.
»Troaë!«, sagt sie.
»Oui?«, sage ich.
»Troaë? Was habt ihr mit Troaë gemacht?«
Sie spricht ein merkwürdiges Französisch mit kräftigem Zungenspitzen-R. Ich versuche ihr zu erklären, dass ich nicht verstehe, wovon sie spricht.
»Petite Troaë. Ich bin ihre Großmutter. Ich weiß, dass sie bei euch ist. Jetzt ist es an der Zeit, dass sie nach Hause kommt.«
Ich breite die Arme aus, als hätte ich immer noch nicht die geringste Ahnung, worauf sie hinauswill. Aus den Augenwinkeln entdecke ich den großen Schraubenschlüssel, der auf einem der Plastikstühle liegt. Erik hat ihn dort liegen lassen, nachdem er versucht hat, das alte verrostete Fahrrad im Schuppen in Ordnung zu bringen. Das ist vier oder fünf Tage her, und es ist ihm nicht gelungen. Ich weiß, dass wir darüber gesprochen haben, er ist merkwürdigerweise schwedisch, ein Bahco, mir fällt sogar die Typennummer ein, 08072. Ich betrachte die Frau einen Moment lang. Ihre Augen sind nur zwei dünne Striche, ihr Gesicht erinnert vage an das einer Katze, und sie hat beide Fäuste in die Seiten gestemmt. Glaubt wahrscheinlich, sie sei unbesiegbar, ich kenne diesen Typ.
»Troaë?«, frage ich, während ich gleichzeitig einen Schritt nach links mache und den Schraubenschlüssel packe. »Das muss ein Irrtum sein.« Ich brauche ein paar Sekunden, um das Wort Irrtum zu finden – erreur –, doch dann gelingt es mir.
»Das ist kein Irrtum«, sagt sie. »Sie hat mehrere Tage von euch gesprochen, und als sie Sonntag von zu Hause fortgegangen ist, hat sie gesagt, sie wolle euch suchen und den Tag mit euch verbringen.«
Ich zögere nicht. Schwinge den Schraubenschlüssel in einem großen Bogen und treffe sie mit voller Kraft schräg über dem linken Ohr. Der Hut fliegt ihr vom Kopf, und sie fällt wie ein niedergeschossenes Wildbret auf dem Terrassenboden zusammen.
Kommentar, August 2007
Worte bedeuten so wenig, Handlungen so viel mehr. Dennoch umgeben wir uns mit Worten, Worten, Worten. Wirklich wichtige Punkte im Leben eines Menschen gibt es nur wenige, und sie können weit verstreut liegen, mit großen Abständen untereinander. Jahre und ganze Jahrzehnte. Wenn wir eines Tages Resümee ziehen müssen, werden wir das deutlich merken – wie wenig alles, was wir gesagt und geschrieben haben, wiegt, wie schwer dagegen die wirklich entscheidenden Handlungen wiegen. Wir werden nicht für Worte zur Rechenschaft gezogen, ich begreife nicht so recht, warum wir uns ständig in deren schützende Obhut flüchten. Warum wagen wir es nicht, in
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