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Eine ganz andere Geschichte

Eine ganz andere Geschichte

Titel: Eine ganz andere Geschichte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hakan Nesser
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natürlich kein menschliches Mittel, das zu entscheiden. Vielleicht wäre sie auf jeden Fall an diesem Morgen aufgetaucht, und vielleicht wäre sie mit den Schweden nach Les Glénan hinausgefahren. Vielleicht wären die gleichen Ereignisse eingetroffen, eine Sache ist sicher, das Wetter wäre auf jeden Fall dasselbe gewesen, der Regen hätte eingesetzt, wahrscheinlich hätte auch der Motor ausgesetzt – aber ob dem Mädchen auf dem Rückweg schlecht geworden wäre, das Boot über den gleichen schicksalsschweren Wellenkamm geritten und jemand anderes ihre Hand losgelassen hätte? Ich kann dieses Rätsel nicht lösen, aber die Gedanken und Fragen wollen mich nicht in Ruhe lassen. In welchem Grad nehme ich tatsächlich an den Ereignissen und Geschehnissen in der Welt teil? Gibt es Alternativen – und verschiedene denkbare Akteure – auf dem Weg zu einem festgelegten Ziel?
    Vielleicht könnte Henrik Malmgren mir in diesen Fragen den Weg weisen. Soweit ich es verstehe, handelt es sich um ein Problem, das in die Philosophie gehört, die Stammmutter aller Wissenschaften, aber ich habe nicht die Absicht, Henrik Malmgren um Rat zu fragen. Ich gehe davon aus, dass ich keinen von ihnen wiedersehen werde, nur mit Erik werde ich wohl das eine oder andere Wort wechseln müssen, bevor ich mich morgen auf den Weg mache. Unter anderem muss ich sichergehen, dass ich ihm nichts mehr schuldig bin. Ich glaube, was das Haushaltskonto betrifft, sind unsere Beiträge ziemlich ausgeglichen, und für den Ausflug nach Les Glénan habe ich auch meinen bescheidenen Anteil geleistet. Auch was das Geld betrifft. Außerdem ist mir klar, dass es für die Zukunft das Beste ist, diesen ganzen Aufenthalt im Finistère in Klammern zu setzen, als etwas anzusehen, was in bestimmter Hinsicht nie passiert ist. Derartige Perioden im Leben eines Menschen müssen erlaubt sein, es kann nicht die Absicht sein, dass wir für alles zur Verantwortung gezogen werden, für jeden unglücklichen Zustand und jede Sekunde, die aus dem Gleis geraten ist.
    Ja, wenn ich erst einmal von hier fort bin, dann werde ich mein Bestes tun, diese zwei Wochen zu vergessen. Ich werde die Wanderung mit der Leiche des Mädchens auf meiner Schulter aus meiner Erinnerung tilgen, ihre intensive Nähe und ihre sonderbare Leichtigkeit, ich habe immer gelesen, dass tote Körper so schwer sein sollen, aber was Troaë betrifft, so stimmt das absolut nicht. Ich werde die schrecklichen Minuten im Wasser verdrängen, und ich werde niemals versuchen, mich daran zu erinnern, wie die Erde sie in sich aufnahm. Diese Aufzeichnungen werde ich natürlich aufbewahren, aber das bedeutet nicht, dass ich zu ihnen zurückkehren und sie noch einmal lesen werde, es genügt zu wissen, dass sie existieren, und wenn ich sie irgendwann in der Zukunft einmal brauche, dann sind sie da.
    Vielleicht sollte ich auch den Menschen einige Zeilen widmen, die mein Leben in diesen zwei Wochen mit mir geteilt haben, aber ich fühle, dass ich keine Lust dazu habe. Es widerstrebt mir, und wenn sie auch nur die geringste Ahnung davon hätten – zumindest einer von ihnen –, welche tiefe Verachtung ich ihnen gegenüber hege, wären sie sicher sehr verwundert. Aber was ich denke und fühle, das steht mir nicht ins Gesicht geschrieben, weder im Guten noch im Schlechten, so ist es immer schon gewesen. Ich erinnere mich, dass Doktor L und ich diesen Tatbestand ziemlich ausführlich diskutiert haben, er meinte anfangs, das sei ein Symptom und Teil meines Krankheitsbildes, aber ich glaube, letztendlich sind wir darin übereingekommen, dass es sich eher um einen legitimen Charakterzug handelt. Seine Gemütsverfassung auf dem Gesicht zu tragen, muss kein Zeichen für Gesundheit sein, es ist zumindest nichts, wonach man trachten muss, wenn es nicht von vornherein der Fall ist.
    Den Nachmittag über machte ich mein Zimmer sauber und packte meine Sachen. Unternahm einen kleineren Spaziergang von eineinhalb Stunden landeinwärts, kam an der Bäckerei vorbei und nutzte die Gelegenheit, eine Zeitung zu kaufen. Auch dieses Mal nicht ein Wort über ein verschwundenes Mädchen. Als ich zum Haus zurückkam, war Erik immer noch nicht heimgekommen, ich nahm an, dass er sich den übrigen Schweden angeschlossen hatte, vielleicht gefällt es ihm nicht mehr in meiner Nähe. Ja, bei genauerem Nachdenken vermute ich, dass es sich so verhält und dass es vermutlich allen Fünfen so geht. Sie warten darauf, dass ich aufbreche, damit sie sich in aller

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