Eine ganz andere Geschichte
ich nichts vom Gesicht ablesen. Henrik beugt sich erneut zu mir vor, quer über den Tisch. Als wäre das alles etwas zwischen ihm und mir.
»Was willst du?«, fragt er.
»Wie bitte?«
»Zur Polizei gehen? Willst du das wirklich?«
»Nicht unbedingt«, erkläre ich.
»Was meinst du dann damit?«
»Ich bin bereit, einen gemeinsamen Beschluss mitzutragen«, sage ich. »Auch dieses Mal. Aber ich akzeptiere nicht die Rolle als Sündenbock.«
Henrik lehnt sich zurück. Er wirft Gunnar kurz einen Blick zu, den dieser erwidert. »Hast du einen Vorschlag?«, fragt er.
Ich schüttle den Kopf.
»Er ist verrückt«, sagt Anna. »Mein Gott, kapiert ihr nicht, dass er verrückt ist?«
Gunnar steht auf. Er nimmt Anna mit sich, die beiden gehen ein Stück zur Seite. Nicht in Richtung Geräteschuppen, sondern zur anderen Seite. Zur Mülltonne und dem Apfelbaum. Erik fragt, ob er noch eine Flasche Wein öffnen soll, Henrik antwortet, dass das sicher nicht schlecht wäre. Ganz unwillkürlich muss ich an Annas Gesicht denken, wie sie nach dem Nacktbad am ersten Abend aussah. Ich begreife nicht, warum ausgerechnet dieses Bild sich in meinem Unterbewusstsein mit so scharfen Klauen festklammert. Es kommt und geht auf meiner Netzhaut, erscheint und verschwindet.
Vielleicht weil ich weiß, dass sie ohne zu zögern mit mir an den Strand gegangen wäre und mit mir geschlafen hätte, wenn ich sie genau in dem Moment bei der Hand genommen hätte. Ich glaube, Gunnar ist ein sauschlechter Liebhaber.
Gunnar und Anna kommen zurück an den Tisch. »Wir müssen beschließen, was wir tun werden«, sagt Gunnar.
»Ausgezeichnete Idee«, meint Erik. »Es wäre nicht so gut, wenn sie noch dort liegt, wenn Monsieur Masson morgen früh kommt und den Rasen mähen will.«
Gunnar ignoriert seinen Kommentar. »Hast du noch eine Flasche Wein oder wie war das?«
Erik holt eine. Anna setzt sich neben Katarina und zündet eine Zigarette an. Ich verstehe, dass man ihr bedeutet hat, im weiteren Verlauf still zu sein. Katarina und Henrik flüstern miteinander, so dass ich nichts verstehen kann. Und das soll ich ja wohl auch nicht.
»Soll ich euch eine Weile allein lassen?«, frage ich. »Wenn ihr es für notwendig anseht, euch zu beraten.«
»Das ist nicht nötig«, meint Gunnar. »Ich habe einen Vorschlag.«
»Gut«, sagt Katarina.
»Ich habe es mir folgendermaßen gedacht«, sagt Gunnar und versucht, seinen Blick in meinen zu bohren. »Wir sind bereit, noch einmal zu schweigen, wenn du dafür sorgst, dass die Leiche weggeschafft wird. Wir werden nicht zur Polizei gehen, und falls sie einen von uns aus irgendeinem Grund aufsuchen, werden wir nichts sagen. Weder über das Mädchen noch über ihre Großmutter. Du reist morgen früh ab, und wir brauchen uns nie mehr wiederzusehen.«
Er macht eine Pause und tauscht Blicke mit den anderen. »Sind alle damit einverstanden?«
Anna und Katarina nicken. Erik auch, zum Schluss Henrik.
»Und du?«
»Kann ich noch ein bisschen Wein haben?«, bitte ich.
Erik zuckt fast zusammen. Dann schenkt er ein, zuerst mir, dann den anderen. Ich drehe eine Weile mein Glas in der Hand, betrachte den roten Wein, der sich im Glas dreht, er hat nicht die gleiche Farbe wie frisches Blut, eher wie altes erstarrtes oder eingetrocknetes. Ich trinke einen Schluck und stelle mein Glas auf den Tisch.
»Ich akzeptiere den Vorschlag«, sage ich. »Aber ich brauche jemanden, der den Spaten trägt.«
Gunnar trägt den Spaten. Ich dachte, das Los würde auf Erik fallen, aber aus irgendeinem Grund wird es also Gunnar. Vielleicht weil er etwas größer und kräftiger ist als Erik. Man kann ja nie wissen.
Aber ich trage die Frau. Wir sagen nichts, ich gehe vor, Gunnar zwei Schritte hinter mir. Zuerst biege ich nach rechts auf den schmalen Kiespfad ab, dann, ein paar hundert Meter weiter, nach links Richtung Menez Rouz auf den noch kleineren Pfad. Es ist der gleiche Weg wie letztes Mal, die Frau hängt über meiner rechten Schulter, genau wie Troaë vor zwei Tagen gehangen hat. Zweimal machen wir eine Pause, ich lege sie auf den Boden und ruhe mich ein bisschen aus. Ich will sie in der Nähe des Mädchens begraben, nicht direkt neben ihr, aber in Gesprächsabstand. Es scheint mir einen Sinn zu machen, dass das Mädchen auch im Tod ihre Großmutter in Reichweite hat. Aber nur in Reichweite, schließlich war es ganz offensichtlich, dass sie miteinander nicht besonders gut zurechtkamen.
Als wir auf dem kleinen Landstück angekommen sind,
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