Eine ganz andere Geschichte
Gedanken.
»Nun?«, fragt Gunnar noch einmal. »Könntest du so gut sein und uns das hier erklären. Bevor wir zur Polizei gehen und dich anzeigen.«
»Ich glaube nicht, dass ihr zur Polizei geht«, sage ich.
»Sei dir dessen nicht so sicher«, entgegnet Henrik und trinkt nervös von seinem Wein.
»Gut«, sage ich. »Aber wenn ich sie nicht getötet hätte, dann würden wir jetzt schon alle zusammen bei der Polizei sitzen. Ich dachte, wir hätten eine Abmachung.«
»Wir haben eine Abmachung, über das, was am Sonntag passiert ist, zu schweigen«, bestätigt Gunnar. »Nicht darüber, eine alte Frau zu töten.«
»Zu ermorden«, sagt Katarina.
»Mein Gott, hast du sie so ohne weiteres totgeschlagen?«, fragt Anna. Es ist ein Hauch von Hysterie in ihrer Stimme zu hören.
»Ich habe so etwas noch nie zuvor getan«, sage ich. »Ich habe auch noch nie ein ertrunkenes Mädchen vergraben und erschlage normalerweise keine alten Damen mit dem Schraubenschlüssel. Ich verstehe einfach nicht, wessen ihr mich hier anklagt.«
Eine Weile bleibt es still am Tisch. Henrik und Anna zünden sich erneut Zigaretten an. Erik hat sich aus irgendeinem Grund die Sonnenbrille aufgesetzt, obwohl es doch elf Uhr abends ist. Ich sehe Gunnar und Henrik an, dass sie verbissen nachdenken, und mir ist klar, dass die beiden, jeder für sich, so langsam einsehen, dass an meinen Worten etwas dran ist. Und an meiner Tat. Gegen ihren Willen sehen sie das ein, und das ist das Problem, ihr Problem, sie wollen nicht zugeben, dass meine Handlung nur eine Konsequenz ist aus dem, was wir vorher verabredet haben. Das zu vertuschen, was während der Bootsfahrt nach Les Glénan geschehen ist. Dass Troaë ertrank und dass wir, als wir beschlossen, das geheim zu halten, den Weg einschlugen, auf dem wir uns jetzt befinden. Es ist nicht allein meine Verantwortung, es ist auch ihre, ja, ich kann sehen, wie diese bittere Wahrheit langsam in ihre leicht berauschten Köpfe sickert, und dass sie jetzt nach Worten suchen, um das zu verarbeiten und zu bekämpfen.
»Du bist ja nicht ganz gescheit«, sagt Anna.
»Sei still, Anna«, sagt Gunnar. »Wir müssen überlegen, wie wir damit umgehen.«
»Damit umgehen?«, fragt Anna. »Was meinst du mit, damit umgehen?«
»The Root Of All Evil«, sagt Erik und lacht plötzlich auf. »Verdammt, die wussten, warum sie sie so getauft haben.«
Ich kann Erik anhören, dass er langsam betrunken wird. Henrik drückt seine Zigarette aus und wendet sich mir zu. »Ich möchte behaupten, dass du die Lage falsch verstanden hast«, sagt er und bläst mir seinen letzten Rauch ins Gesicht, ich weiß nicht, ob absichtlich oder nicht. »Und zwar ziemlich.«
»Aha?«, wundere ich mich. »Und auf welche Art habe ich sie falsch verstanden?«
»Auf folgende Art«, fährt Henrik fort, und ich sehe, dass er dadurch, dass er argumentieren muss, aufgeregt wird, als handele es sich um eine Art akademischen Disput. »Du behauptest, dass wir alle die gleiche Verantwortung an dem hier tragen, aber so ist es natürlich nicht. Genau betrachtet … ja, genau betrachtet bist du derjenige, der die Schuld an allem trägt, und wir haben uns entschieden zu schweigen, damit du nicht in der Klemme sitzt. Du warst derjenige, der das Mädchen auf dem Boot losgelassen hat, so dass sie ertrunken ist, du warst derjenige, der sie vergraben hat, statt zur Polizei zu gehen und zu berichten, was passiert ist, du warst derjenige, der ihre Großmutter ermordet hat. Begreifst du nicht – wenn wir das alles erzählen, dann wirst du allein dastehen mit aller Schuld. Wir sind es, die dich schützen, und wir haben keinerlei Verpflichtung oder Schuld dir gegenüber.«
»Genau«, sagt Katarina.
Ich denke einen Augenblick lang nach. Schaue mich am Tisch um. »Gut«, sage ich. »Wenn ihr das so seht, dann kann ich ja jetzt sofort zur Polizei gehen.«
Henrik hat nach seinen Darlegungen ziemlich zufrieden ausgesehen, aber jetzt fällt die Maske. »Du bist ja nicht ganz gescheit«, sagt er. »Ich glaube wirklich, du spinnst.«
»Das sage ich doch die ganze Zeit«, erklärt Anna triumphierend.
Keiner der anderen scheint etwas gegen diese Analyse einzuwenden zu haben. Katarina schüttelt den Kopf und schaut in die Finsternis. »Ungewöhnlich viele Fledermäuse heute Abend«, sagt sie. »Frage mich, woran das liegt.«
»Das sind vielleicht die Boten des Todes?«, sage ich.
Gunnar runzelt die Stirn und betrachtet mich intensiv. Nur Erik, hinter seiner dunklen Brille, kann
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