Eine ganz andere Geschichte
finden, dauerte etwas länger. Es stellte sich heraus, dass sie ungefähr genau in der Mitte zwischen Mousterlin und Beg-Meil lag, und sie fuhren eine ganze Weile auf den Kieswegen herum, die kreuz und quer durch die Marschlandschaft führten, bevor sie es doch noch fanden. Auch hier hatten sie keine Verabredung mit dem Besitzer getroffen. Leblanc und Morelius hatten mit ihm früh am Morgen telefoniert, aber er behauptete, seine Hütte im Laufe der Jahre an so viele verrückte Touristen vermietet zu haben, dass er nicht mehr einen vom anderen unterscheiden konnte. Außerdem wollte er hinaus zum Fischen und dachte gar nicht daran, seine Pläne von irgendwelchen Polizisten durchkreuzen zu lassen. Des flics et des touristes! Jamais de la vie!
Bullen und Touristen, nie im Leben, übersetzte Morelius.
Als sie bei Le Clos ankamen, wie das dritte – und nach allen wohlbegründeten Hoffnungen ja wohl das wichtigste – Haus hieß, war es vier Uhr nachmittags, und immer noch zeigte sich nicht eine Wolke am Himmel. Der Besitzer, ein Monsieur Masson, hatte versprochen, gegen fünf Uhr aufzutauchen, aber er hatte gesagt, falls sie früher ankämen, sollten sie doch nur aufs Grundstück gehen und es sich bequem machen. Einen Steinwurf entfernt lag eine Bäckerei, genau wie es in dem Dokument gestanden hatte, und man hatte gerade nach der Mittagspause wieder geöffnet, sie gingen also hin, kauften Wasser, Obst, eine Tageszeitung und drei pain au chocolat. Kehrten nach Le Clos zurück, ließen sich unter dem Sonnenschirm auf der Terrasse nieder und warteten. Barbarotti erklärte, dass es mindestens 33 Grad im Schatten hatte, und wenn sie nicht eine weibliche Beamtin im Schlepptau gehabt hätten, hätte er sich bis auf die Unterhose ausgezogen.
Man konnte das Haus nämlich nicht einsehen. Eine hohe, dichte Rhododendronhecke umgab es von drei Seiten, auf der vierten, zum Meer hin, breitete sich eine Wiese mit meterhohem Gras aus. Barbarotti registrierte, dass man das Meer hören konnte, obwohl es mehrere hundert Meter entfernt sein musste, er vermutete, dass die Flut eingesetzt hatte.
Das Haus selbst erinnerte an das Malmgrensche. Weiß mit grauen Steingiebeln und blauen Fensterläden. Zwei Stockwerke. Terrasse mit weißen Plastikmöbeln, ein blauer und ein gelber Sonnenschirm. Als hätte IKEA auch hier seinen Claim abgesteckt. Die Umzäunung zeigte genau den gleichen blauen Farbton wie Sorgsens Papierkorb.
»Das hier ist also der Tatort selbst?«, fragte Inspektorin Morelius und schälte eine Banane.
Barbarotti schaute sich um. »Vermutlich«, bestätigte er. »Ja, es muss hier auf der Terrasse passiert sein … und dort«, zeigte er, »dort hinten haben wir den Geräteschuppen.«
Er lag halb versteckt unter einem üppigen Laubbaum. Sieht aus wie eine Kastanie, fand Barbarotti, aber die Blätter waren gezackt. Er trank einen Schluck Wasser, stand auf und ging hin. Stellte fest, dass es im Schatten des Laubs deutlich kühler war und blieb dort eine Weile stehen, ein leichter Wind war auch wahrzunehmen. Wenn er selbst hier wohnen würde, würde er zweifellos so einen Tag in einem Liegestuhl genau unter diesem Baum verbringen, ganz gleich, was für eine Art es nun auch war.
Und hier hatte also die tote alte Frau gelegen, dachte er dann. Wäh rend die Schweden hinten auf der Terrasse saßen und darüber diskutierten, was sie mit ihrer Leiche anstellen sollten.
Eine kleine, schmächtige Frau, den Kopf mit einem schwedischen Schraubenschlüssel zertrümmert. Genau hier wahrscheinlich, hier auf dem kleinen Fleck aus Gras und Erde, hatte sie gelegen, eine schwarz gekleidete französische Frau mit blutrotem Strohhut und … ein plötzliches Schwindelgefühl durchfuhr ihn, vielleicht war es auch ein Sonnenstich, eine Folge der Hitze und dieser unbegreiflichen finsteren Geschichte vermutlich, dieser sich entziehenden und gleichzeitig höchst greifbaren Geschichte mit einer Hauptperson, die … ja, die was? Aus der man nicht ganz schlau wurde, dachte Barbarotti. Das war wohl das Mindeste, was man behaupten konnte? Die in diesem friedlichen kleinen Haus ein paar Wochen in einem Sommer vor fünf Jahren gewohnt hatte und die sieben Menschenleben auf dem Gewissen hatte. Vielleicht auch noch das eigene.
Wer bist du?, dachte er. Oder wer warst du? Welchen Sinn hat dein Bericht?
Und wieder kam ihm das gestrige Bibelwort in den Sinn.
Das Vorhaben im Herzen eines Mannes ist wie ein tiefes Wasser; aber ein kluger Mann kann es
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